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© AFP

EU-Tribunal: Ein Land als Geisel

Weil der frühere Armeechef der bosnischen Serben, Ratko Mladic, immer noch auf freiem Fuß ist, blockieren die Niederlande Serbiens Weg in die EU.

In Den Haag ist der Prozess gegen den mutmaßlichen Völkermörder Radovan Karadzic angelaufen. Doch sein einstiger Militärchef Ratko Mladic ist noch immer auf freiem Fuß. Und hält damit ganz Serbien als Geisel.

In jeder serbischen Polizeiwache hängt sein Porträt, genauso an jedem Grenzübergang des Landes: das Fahndungsfoto von Ratko Mladic, heute 67. Er ist der meistgesuchte Mann Europas, seit 14 Jahren zur Verhaftung ausgeschrieben – und das derzeit schwerwiegendste Hindernis Serbiens auf dem Weg in Richtung EU. Für Hinweise, die zu Mladics Festnahme führen, ist eine Belohnung von viereinhalb Millionen Euro ausgelobt, eine Million von der serbischen Regierung, dreieinhalb Millionen von den USA.

Der frühere Armeechef der bosnischen Serben soll zusammen mit Radovan Karadzic den Völkermord von Srebrenica befohlen haben, bei dem 1995 rund 8000 muslimische Männer und Jungen umgebracht worden waren. Mladic wird auch die Belagerung und Beschießung von Sarajevo 1992 bis 1995 mit über 10.000 Todesopfern zur Last gelegt, dazu die Vertreibung von Hunderttausenden von Menschen, die Einrichtung von Folter- und Todeslagern, Geiselnahmen und unzählige weitere Gräueltaten in Bosnien und Herzegowina. Dennoch unterstützt nach neuen Umfragen lediglich ein Viertel der serbischen Bevölkerung seine Auslieferung. Mladic und der kroatische Serbenführer Goran Hadzic sind die einzigen vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag Angeklagten, die noch auf der Flucht sind. Weder das hohe Kopfgeld noch die Beteuerungen der serbischen Regierung, alles zu tun, um Mladic zu verhaften, haben bislang zum Erfolg geführt.

Serge Brammertz, Chefankläger des Haager Tribunals, reiste nun zum wiederholten Mal nach Belgrad, um sich über Fortschritte informieren zu lassen. Im Vorfeld hatte Brammertz erneut deutlich gemacht, dass Mladic und Hadzic seiner Einschätzung nach in Serbien seien. Über den derzeitigen Aufenthaltsort von Mladic, der sich bis 2002 beinahe ungehindert in Belgrad bewegen konnte, ranken sich wilde Gerüchte. In serbischen Ermittlerkreisen jedoch wird immer wieder spekuliert, er könnte sich – ähnlich wie schon Karadzic – in den anonymen Hochhaussiedlungen des Stadtteils Neu-Belgrad verstecken. Zudem wird vermutet, Mladic bekomme Unterstützung aus serbischen Armeekreisen. Verteidigungsminister Dragan Sutanovac beteuerte im Oktober zwar, sein Ministerium wende keinen einzigen Dinar für den Schutz von Kriegsverbrechern auf. Doch es gebe etwa 55.000 Soldaten und Offiziere in Rente, und „wir können nicht garantieren, dass niemand von ihnen Kontakt zu ihm hat“.

Zusehends ungehalten darüber, dass Mladic noch nicht verhaftet ist, zeigt sich Sutanovacs Kabinettskollege Rasim Ljajic. Eigentlich Sozial- und Arbeitsminister, ist Ljajic auch Vorsitzender des sogenannten Nationalrates für die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal. Er drohte mit dem Rücktritt von diesem Amt, sollte Mladic bis Ende des Jahres nicht hinter Schloss und Riegel sitzen. Staatspräsident Boris Tadic mahnte ebenfalls, „grundlegende Interessen des serbischen Volkes“ seien in Gefahr, sollte sich Mladic noch länger versteckt halten.Die Sorge von Tadic und Ljajic gilt vor allem der Annäherung an die EU, dem wichtigsten außenpolitischen Ziel des Landes. Das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU wird erst umgesetzt, wenn die EU-Regierungen einstimmig feststellen, dass Serbien „vollständig“ mit dem Haager Tribunal kooperiert. Während die EU-Kommission und die meisten Mitgliedsstaaten die Voraussetzung als erfüllt erachten, widersetzen sich die Niederlande diesem Schritt. Für sie ist eine „vollständige Zusammenarbeit“ erst mit der Auslieferung von Mladic erreicht.

Norbert Rütsche[Sarajevo]

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