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Reisen in Europa anno 1955. Zollkontrolle an der deutsch-französischen Grenze.

© Nationaal Archief, Den Haag

EU und 60 Jahre Römische Verträge: Als der Kontinent noch aus Grenzen bestand

Urlaubmachen im europäischen Ausland: Unser Autor erinnert sich an eine Zeit, in der in Europa Trennendes das alltägliche Leben bestimmte.

Man kann nur vermissen, was man schon als beglückend erfahren hat. Und um das Schmerzhafte eines Verlustes zu empfinden, muss man sich vorher am Besitz dessen erfreut haben, was dann plötzlich fehlt. Was dieser Zwei-Sätze-Ausflug in die Küchenphilosophie soll? Ich möchte Sie, liebe Leserin und lieber Leser, sollten Sie um die 30, 40 Jahre alt oder gar noch jünger sein, um ein Gedankenexperiment bitten. Sie mögen sich bitte in eine Zeit versetzen, in der in Europa nichts von dem selbstverständlich war, was heute zu unserem Alltag gehört, im Privaten wie im Beruflichen. Und deshalb möchte ich berichten, wie Urlaubmachen im europäischen Ausland, wie Reisen in Europa vor einem halben Jahrhundert stattfanden.

Grenzen überwinden auf der Reise nach Frankreich

Als ich mit meiner Freundin 1968 beschloss, an die französische Atlantikküste zu fahren – die beeindruckenden Schwarz-Weiß-Fotos in einem „Merian“-Heft hatten uns auf die Idee gebracht –, war klar, dass sorgfältige Planung die Basis dieser Reise sein musste. Hotelempfehlungen per Internet gab es nicht, denn das war da noch nicht erfunden. Orientierung bot der Michelin-Führer. Man schrieb ein Hotel an, wartete auf Antwort, bestätigte das Angebot oder auch nicht und kündigte, falls die Offerte positiv bewertet wurde, seine Ankunft für einen bestimmten Zeitpunkt an.

Dann kam das Thema Devisen. Denn natürlich hatte Frankreich eine andere Währung als Deutschland, den Franc, von dem es zudem noch zwei Varianten gab. Der 1958 eingeführte „Nouveau Franc“ war so viel wert wie 100 „Ancien Francs“, und da die Franzosen ein sehr traditionsbewusstes Volk sind, rechneten sie auch zehn Jahre nach dem Währungswechsel immer noch in der alten Währung. Das machte Preisvergleiche gelegentlich schwierig. Da wir beide nur wenig verdienten, hatten wir keine Schecks (Scheckkarten gab es noch nicht), sondern mussten für die dreiwöchige Reise vorausschauend Bargeld disponieren. Der Briefwechsel mit dem Hotel an der Atlantikküste hatte ja auch ergeben, wie viel uns Unterkunft und Halbpension kosten würden. Diesen Betrag tauschten wir in Francs um und gaben ihn am Abend des Ankunftstages an der Rezeption ab. Damit war klar: Verhungern würden wir nicht müssen.

Bitte um telegrafische Geldanweisung

Keinen Zweifel gab es aber auch, dass wir mit dem restlichen Geld würden über die Runden kommen müssen. Das klappte auch, musste auch klappen, denn die einzige Notmaßnahme, die vor 50 Jahren zur Verfügung stand, sollte man wirklich nur im äußersten Fall anwenden: Anruf in Deutschland bei gut situierten Freunden (dauert ein bisschen, Gespräch musste über Paris und Frankfurt am Main nach Konstanz handvermittelt werden) mit der Bitte um eine telegrafische Geldanweisung ...

Was heute auch unvorstellbar ist, waren die kleinlichen Grenzkontrollen, bei denen weniger die Identität der Reisenden überprüft als nach zu verzollenden Waren gesucht wurde, nach Reiseandenken. Zwei Flaschen Wein waren erlaubt und wurden deklariert, was aber bei der Durchreise weder den Schweizer noch den deutschen Zoll davon abhielt, im Kofferraum nach weiteren Mitbringseln zu suchen. Einige Jahre zuvor, beim Besuch eines Kollegen in England, wurde für diesen mitgebrachter Wein vom Bodensee als „cooking wine“ angemeldet, weil der keinen Zoll kostete. Das klappte aber nicht: Der englische Beamte in Dover schaute auf das Etikett und sagte kurz und knapp: „This is no cooking wine“. Ich zahlte. Kann sich heute noch jemand vorstellen, dass man aus dem Urlaub im europäischen Ausland nicht als Andenken mitbringen darf, wonach einem ist – bis zum Hund, den man an einem spanischen Strand aufgelesen hat?

Arbeitserlaubnis im Ausland war schwierig

Für den erwähnten Korrespondenten in London war es nicht schwierig gewesen, 1966 die Arbeitserlaubnis für eine deutsche Zeitung zu bekommen. Denn er nahm ja keinem Inländer einen Job weg, das war vor 50 Jahren ein wichtiges Ausschlusskriterium. Heute kann sich der Arbeitgeber genauso wie der Arbeitnehmer auf dem ganzen europäischen Personal- und Jobmarkt das am besten qualifizierte Personal und die sympathischste Stelle aussuchen. Und genauso selbstverständlich kann jeder seinen Hausrat und seine Möbel in einen Transporter packen, sich eine Wohnung irgendwo in Europa suchen und einziehen, dort Steuern zahlen wie ein Inländer, seine Kinder in Kitas oder Schulen schicken und mehrsprachig aufwachsen lassen. Es ist das, was wir immer als das Europa ohne Grenzen für Menschen, Waren, Geld und Dienstleistungen rühmen.

1968 wäre nichts, aber wirklich nichts von alledem möglich gewesen. Oft musste man mühsame Verwaltungswege gehen, bevor die Arbeitsaufnahme in einem anderen europäischen Land überhaupt möglich war. In Deutschland gab es zum Beispiel Gesetze, die es deutschen Staatsbürgern ausdrücklich untersagten, ohne schriftliche Zustimmung des Arbeitsamtes im Ausland eine in der Regel besser bezahlte Tätigkeit aufzunehmen. Als Vorwand der Regelung aus der Nazi-Zeit diente der angebliche Schutz vor Verschleppung in einen Harem oder Ähnliches. Tatsächlich wollte der Staat die Kontrolle über die Menschen behalten. Erst nach einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, die meine damalige Zeitung, der „Südkurier“ anstrengte und gewann, wurde diese Vorschrift für ungültig erklärt.

Studienaufenthalte im Ausland nur für Wohlhabende

Andererseits war es eigentlich nur im Bereich der Universitäten relativ leicht, im Ausland zu arbeiten. Studienaufenthalte jedoch, etwa in England, Spanien oder Frankreich, ein oder zwei Auslandssemester gar, waren vor 50 Jahren nur für Jugendliche aus reichem Elternhaus vorstellbar. Dank der Erasmus-Programme konnten seit 1987 bis 2014 (neueste Zahlen) 522 000 junge Europäer in 33 Staaten des Kontinents studieren und Prüfungen ablegen, ohne Studiengebühren zahlen zu müssen. Wir nehmen es als selbstverständlich hin.

Wenn heute überlegt wird, jungen Europäern zum 18. Geburtstag eine für ein Jahr gültige kostenlose Interrailkarte zu schenken, ist auch das ein weiterer Versuch, die Grenzen der EU durchlässig zu machen. Und wer heute darüber nachdenkt, wieder mehr nationale Elemente in die europäischen Strukturen einzubauen, Gemeinsames zurückzudrängen – der sollte zurückblicken in jene Zeit, in der man sich nach mehr Verbindendem geradezu gesehnt hat.

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