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Ins Zentrum gerückt: Angela Merkel.

© dpa

Euro-Rettung: Der Riese tritt aus dem Schatten

Beim Krisengipfel in Brüssel haben die Deutschen ihre außenpolitische Bescheidenheit aufgegeben. Kanzlerin Angela Merkel setzte ihre Ziele durch. Und hat die Gewichte Europas verschoben.

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Wahrscheinlich gibt es auch im Leben einer Kanzlerin nicht viele Dokumente, die man sich golden eingerahmt ins Wohnzimmer hängen will. Der Brief, den Angela Merkel tief in der Nacht zum Donnerstag erhalten hat, könnte eine der wenigen Ausnahmen sein. Das Schreiben kam vom Internationalen Bankenverband. Die Herren des Geldes erklärten ihre Kapitulation. Griechenlands private Gläubiger verzichten auf die Hälfte ihrer Schuldansprüche. Es ist der letzte, der entscheidende Durchbruch dieses Euro-Gipfels. Eingerahmt gehört aber die Anredeformel. „Chancellor Merkel“, steht da, „President Sarkozy and Distinguished Leaders of Europe“.

Die deutsche Kanzlerin, der französische Präsident und der Rest – in dieser Nacht, die Banker haben das begriffen, ist in Europa mehr passiert als ein Balanceakt mit unvorstellbar großen Zahlen. Jahrzehntelang hat Deutschland so getan, als ob es bloß ein kleines unter vielen europäischen Lichtern sei. In Wahrheit war es immer schon ein Riese. In dieser Nacht tritt der Riese aus dem Schatten.

Er tut das, wie bei Angela Merkel ja nicht anders zu erwarten, immer noch auf schwäbisch-hausfraulichen Filzpantoffeln. Merkel lässt Nicolas Sarkozy den Vortritt, als beide nachts um kurz vor vier Uhr in den Brüsseler Pressekonferenzsaal kommen, wie immer übrigens. Der hibbelige Franzose darf die Einigung verkünden, darf von „gewaltigen Entscheidungen“ schwärmen, „die man sich noch vor einem Jahr überhaupt nicht hätte vorstellen können“, und er darf daran erinnern, dass er ja immer schon eine europäische Wirtschaftsregierung ...

Merkel wartet, bis Sarkozy fertig ist. „Ich bin sehr zufrieden mit den Ergebnissen“, sagt sie dann. „Das ist ein wichtiges Paket auf dem Weg zu mehr Stabilität.“ Aber bitte, kein Überschwang: Es gebe nicht den Paukenschlag zur Lösung der Euro-Krise, nur immer neue Schritte, nach und nach.

Also alles wie gehabt? Bloß einer dieser vielen Euro-Gipfel, der mit schwer durchschaubaren Zankereien anfängt und mit einem für Normalverbraucher völlig unverständlichen Abschlussdokument endet? Von wegen. Diese Krise, die als Krise Griechenlands begann und jetzt einen ganzen Währungsraum bedroht, hat in Europa Gewichte verschoben. Theo Waigel hat das neulich historisch freundlich so ausgedrückt, dass vielleicht zum ersten Mal Deutschland diesem Europa etwas von dem zurückgeben könne, was es nach zwei angezettelten Weltkriegen und einer trotzdem gewährten Wiedervereinigung bekommen habe.

Man kann es aber auch nüchterner sagen. In dem Sturm, der über den Euro hereingebrochen ist, ist der Exportweltmeister das letzte Bollwerk der Stabilität. Wer, wenn nicht die Deutschen, soll für die gemeinsame Währung noch bürgen? Alle wissen das. Alle hoffen, dass die Deutschen keine Dummheiten machen – als der Bundestag am Mittwoch abgestimmt hat, haben internationale Nachrichtensender live berichtet. Aber das Schwergewicht hat auch Folgen. „Wer das Meiste bezahlt, wird auch ein bisschen mitreden müssen“, sagt ein deutscher Regierungsvertreter.

Woran man die Verschiebung der Gewichte ablesen kann, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Man kann diese Verschiebung der Gewichte sehr genau an der Wut des David Cameron ablesen. Der britische Premier hat sich am Sonntag auf dem ersten Halbgipfel von Sarkozy beschimpfen lassen müssen: Was er eigentlich wolle mit seinem Rumgemeckere an einer Euro-Zone, der die Briten mit ihrem komischen Pound Sterling partout nicht angehören wollten! Für den Mittwoch war der Brite dann gar nicht mehr eingeladen. Cameron ist stinksauer gewesen. Er, der Lordsiegelbewahrer der Londoner City, des größten Finanzzentrums des Kontinents – nicht eingeladen?

Um des lieben Friedens willen kommen am Mittwoch Nachmittag dann doch alle 27 EU-Spitzen in Brüssel zusammen. Die große Runde dauert keine zwei Stunden. Sie nickt ab, was die Finanzminister ausgearbeitet haben, dass Europas Banken ihr Eigenkapital-Fundament um gut 100 Milliarden Euro aufstocken müssen.

Dann gehen die „Outs“ wieder. „Outs“ nennen sie in Brüssel neuerdings die, die nicht zur Eurozone gehören, und diese „Outs“ haben neuerdings ein ganz dummes Gefühl. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk formuliert es so: „Die weitere Integration der Euroländer darf nicht zu einer Zweiklassengesellschaft in Europa führen.“ Doch es gibt diese zwei Klassen längst. Die Wut des David Cameron ist ihr Zeuge. Die Euro-Europäer bestimmen über das Schicksal der Londoner City mit, und er darf nicht mitreden.

Cameron und die anderen also trotten von dannen; in der ersten Klasse wird anschließend Crevettencocktail, Steinbutt an herbstlichem Gemüse und Sorbet serviert. Unsichtbar mit auf dem Tisch liegt beim Arbeitsessen der 17 Staats- und Regierungschefs der Eurogruppe der dickste Brocken. Eineinhalb Jahre lang haben sie versucht, Griechenland mit Zuckerbrot und Peitsche zu sanieren. Das mag einmal als aussichtsreicher Weg erschienen sein – auch Staatenlenker lernen langsam – aber es hat nicht gereicht.

Ginge alles so weiter, müssten Europas Steuerzahler demnächst 252 Milliarden Euro nach Athen überweisen. Die Krise hat schon ein paar Regierungen das Amt gekostet, aber so etwas würde politisch keiner in der Runde überleben. Also muss ein Schuldenschnitt her, ein „Haircut“. Anders als im Friseursalon tut der Haarschnitt in der Finanzwelt weh: Die Gläubiger müssen auf Ansprüche verzichten. Die Gläubiger sind die Banken, die Versicherungen, die Fonds. Seit Tagen sträuben sie sich mit Händen und Füßen. Soll man sie also zwingen?

Die Deutschen spielen durchaus mit dem Gedanken. Die Franzosen mögen ihn nicht. Ihre Banken haben sehr, sehr viele griechische Staatsanleihen, auf rund 80 Milliarden Euro schätzen Experten die Depots. Hinter der Abneigung steckt aber vor allem einer dieser vertrackten Mechanismen der Finanzwelt: Einen erzwungenen Gläubigerverzicht würden die Ratingagenturen als Teil-Pleite werten – mit vermutlich fatalen Folgen für die Ratings der Franzosen. Also muss es wenigstens freiwillig aussehen.

Im Ernst kann auch Merkel nicht wollen, dass Sarkozy am Ende mehr Zinsen für seine Staatsschulden zahlen muss, weil das früher oder später auch auf den Euro-Rettungsschirm EFSF durchschlägt, was wiederum die Bonität der Bundesrepublik strapaziert ... man sieht schon, sehr komplizierte Sache, weil alles mit allem zusammenhängt. Merkel wird später etwas von der Vieldimensionalität des Problems sagen. Physiker können mit mehr als vier Dimensionen rechnen, auch wenn sie keine Ahnung haben, wie man das Ergebnis normal Sterblichen erklären könnte. In dieser Nacht ist ein ähnliches Rechenkunststück gefragt.

Warum Berlusconi für so eine komplizierte Gemengelage durchaus gut ist, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Man kann es infolgedessen als durchaus entspannende Einlage empfinden, wenn mitten in dieser Welt der Zahlen, Hebel, Bonds und Ratings auch mal das Menschliche sich Bahn bricht. Es tut dies in Gestalt des Silvio Berlusconi. Der italienische Premier ist am Sonntag von Merkel und Sarkozy ins Gebet genommen worden. Italien hat ziemlich viele Schulden. Das wäre eigentlich kein Problem, es ist immer noch die drittstärkste Wirtschaftsmacht der Euro-Zone. Aber Berlusconi war lange anderweitig beschäftigt und hat darüber vergessen, etwas gegen die Schuldenlast zu tun. Ohne ein halbwegs glaubwürdiges Sanierungsprogramm droht Italien in den Sog der Euro-Krise zu geraten. Der Rettungsschirm EFSF ist für den Fall zu klein. Deshalb müssen die anderen Euro-Staaten sich „Hebel“ ausdenken, die den Milliardenschirm mit Hilfe von Investoren aus China und anderswo aufblähen bis auf Billionensummen. Die „Hebel“ muss der Gipfel übrigens auch beschließen, apropos Vieldimensionalität.

Merkel und Sarkozy also haben Berlusconi vor vier Tagen ernsthaft ermahnt, endlich seine Hausaufgaben zu machen. Das Fernsehbild, wie sich die Deutsche und der Franzose danach süffisant anlächelten, haben sie in Italien tagelang in einer Art Dauerschleife ausgestrahlt – zur Empörung der Einen und der stillen Freude der Anderen. Mittwochnacht, in einer Pause, ruft Berlusconi beim italienischen Staatssender RAI an. „Merkel ist zu mir gekommen, um sich für Sonntag zu entschuldigen“, verkündet der blamierte Regierungschef in eine Live-Sendung hinein. „Sie hat mir gesagt, dass sie Italien nicht herabwürdigen wollte.“

Das deutsche Dementi kommt prompt, über den SMS-Kurznachrichtendienst Twitter und auf Englisch, damit jeder sie gut versteht. „Es gab keine Entschuldigung der Kanzlerin, weil es keinen Grund für eine Entschuldigung gab“, morst Regierungssprecher Steffen Seibert. Merkel hat Berlusconi die Hand gegeben zur Begrüßung. Das scheint, glaubt einer in der deutschen Delegation, der Cavalliere missverstanden zu haben. Übrigens hat Berlusconi in der Sache geliefert, schriftliche Reformzusagen.

Aber die Kabaretteinlage spielt in dieser Nacht nur am Rande. Im Zentrum stehen andere. Die Unterhändler der Eurogruppe, die Finanzstaatssekretäre aus Italien und Deutschland, Vittorio Grilli und Jörg Asmussen, verhandeln seit Tagen mit dem Internationalen Bankenverband IIF. Die Runde sitzt übrigens im Kommissionsgebäude „Borschette“ in der Rue Foissart, nicht im Ratsgebäude. Als es im Juli schon mal um die Frage ging, auf wie viel Ansprüche an die Griechen die Banken verzichten, hatten die Euro-Chefs den damaligen IIF-Chef Josef Ackermann direkt zu sich gebeten. Das kam öffentlich nicht gut an, schon wegen Ackermann. Aber das Tagen am Rande hilft auch nicht. Die Banken wollen nicht so stark verzichten, sie wollen andere Bedingungen. Nachts gegen ein Uhr ist es an der Zeit, dass die Großen die Sache an sich ziehen. Die Banker werden ins Büro von Ratschef Hermann Van Rompuy gebeten. Dort warten Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker, die Chefin des Weltwährungsfonds, Christine Lagarde, EU-Kommissionschef Jose Manuel Barroso. Und da sitzen die Zwei: Merkel und Sarkozy.

Die Unterredung muss recht einseitig verlaufen sein, so wie Merkel sie schildert. Gemeinsam habe man den Herren klargemacht, dass es keine weiteren Verhandlungen geben werde. „Wir haben nur ein einziges Angebot gemacht“, sagt Merkel. Und: „Wir haben unser Angebot angstfrei vorgebracht.“ Die Ansprüche der Privatgläubiger – rund 200 Milliarden Euro – werden halbiert, der Rettungsschirm EFSF stellt 30 Milliarden Euro als Absicherung zur Verfügung, macht netto einen Verzicht der Banken, Fonds und Versicherungen von 70 Milliarden Euro. „Das war unser letztes Wort“, sagt Merkel. Sonst kommt der Zwang, 50 Prozent weg, und das dann ohne EFSF-Garantien.

Das Gespräch dauert keine Stunde. Gegen 1.45 Uhr ziehen sich die Bankenfunktionäre ins eigene Hauptquartier zurück. Dann heißt es Warten. Die Chefs warten. Die Journalisten warten. Im Pressesaal geht das Bier aus.

Und dann kommt der Brief, dieser Brief an „Kanzlerin Merkel, Präsident Sarkozy und die ehrenwerten Führungspersönlichkeiten Europas“. Sarkozy wird später verkünden dürfen, dass er diesen letzten Versuch zur gütlichen Einigung angestoßen hat: „Frankreich wollte eine Tragödie verhindern“ – so etwas Ähnliches wie damals, als die Lehman-Bank zusammenbrach und das Weltfinanzsystem hinterherfiel. Sarkozy wird auch sagen, dass die neue Brandmauer um die Eurozone 1,39 Billionen US-Dollar stark sei. „Ich benutze Dollar“, sagt der Franzose, „da ich mich heute Nacht an die Welt wende.“

Das ist nicht so erstaunlich, Sarkozy gibt gerne den Weltpolitiker. Bei Angela Merkel kommt die große Geste eher selten vor. Diesmal schon. „Mir ist sehr bewusst, dass die Welt heute auf diese Beratungen geschaut hat“, sagt die Kanzlerin. Die Welt hat sehen können, wie dieses Europa sich wieder zusammengerauft hat, über alle Differenzen hinweg, selbst über die deutsch-französischen, die in den zurückliegenden Wochen genau so massiv waren, wie sie offiziell dementiert wurden. Und sie hat sehen können, wie eine deutsche Kanzlerin ihr Programm durchgesetzt hat. Morgens um halb sechs ist sie wieder in Berlin gelandet. Dort liege, schreibt ein britisches Blatt, jetzt „das Epizentrum“ Europas.

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