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Auch in Deutschland entscheidet häufig immer noch vor allem die soziale Herkunft über den Schulerfolg.

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Europa: Bildung in der EU: Das Sorgenkind

Viele EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, verschleppen dringend nötige Bildungsreformen. Das zeigt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung.

Längst schienen Begriffe wie Klasse und Klassenkampf in der Mottenkiste verschwunden, doch nun tauchen sie wieder auf. Ob das Ergebnis der Brexit-Abstimmung, der Wahlsieg von Donald Trump in den USA oder die AfD in Deutschland – viele aktuelle Entwicklungen werden oft als Zeichen für den Frust einer marginalisierten Arbeiterklasse gesehen.

Eine europaweite Expertenbefragung hat nun untersucht, wie ungleich die sozialen Teilhabe-Chancen in Europa tatsächlich verteilt sind und wo der Bedarf an sozialpolitischen Reformen besonders drängt. Die Ergebnisse des EU-Reformbarometers der Bertelsmann-Stiftung, an der mehr als 1000 Wissenschaftler teilgenommen haben, zeigen: Vor allem in bestimmten Bereichen genügen die unternommenen Reformen längst nicht, um soziale Schieflagen zu beseitigen.

Beispiel Deutschland: Beim Pisa-Ergebnis 2009 war die Bundesrepublik auf Platz 16, beim Pisa-Ergebnis 2016 auf Platz 16. Was sich hier erahnen lässt, bestätigen auch die befragten Experten. Viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darunter auch Deutschland, weisen insbesondere im Bildungsbereich sowie bei der Integration von Ausländern eine deutliche Kluft zwischen dem Reformbedarf und den tatsächlich umgesetzten Reformen auf.

Die teilnehmenden Spezialisten untersuchten dazu sozialpolitische Reformen zwischen Mitte 2014 und Anfang 2016 in den fünf Bereichen Armut, Bildung, Arbeitsmarkt, sozialer Zusammenhalt und Nichtdiskriminierung sowie Gesundheit. Ergebnis: In allen fünf Bereichen herrscht großer Bedarf zur Veränderung – auch, weil die EU-Mitgliedstaaten durchschnittlich nur knapp 50 Prozent des EU-weit ermittelten Reformbedarfs angepackt haben.

Vorzeigeland Malta

Besonders stark hapert es im Bildungsbereich, wo nur ein Drittel des Reformbedarfs angegangen wurde. Vorbildlich zeigte sich hier vor allem Malta, das unter anderem ein Programm zur Reduzierung der Zahl der Schulabbrecher, kostenfreie Kinderbetreuung oder die Einführung von Abend- und Onlinekursen für flexibles Studieren vorweisen kann. Negativ tun sich Griechenland, Litauen und Spanien hervor. Großbritannien war zwar überdurchschnittlich aktiv. Zum Teil allerdings hatten Maßnahmen wie etwa die drastische Erhöhung von Studiengebühren eher negative soziale Folgen, konstatieren die Experten.

In Deutschland habe der Gesetzgeber überdurchschnittlich viele Reformen in der frühkindlichen Bildung umgesetzt, dennoch beeinflusst die soziale Herkunft laut der Studie den Bildungserfolg immer noch zu stark. Auch Flüchtlinge wurden zudem schlecht in das Bildungssystem integriert.

Starker Einfluss der sozialen Herkunft

Besorgniserregend ist laut der Befragung der maßgebliche Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg besonders in Kroatien, Griechenland, Ungarn, die Slowakei, Spanien und Finnland.

Dabei geht zumindest Finnland in anderer Hinsicht mit gutem Beispiel voran. Unterschiedliche Pilotprojekte erproben dort neue Konzepte. Etwa Schulen, die Wissen nicht in Fächern, sondern über Themen vermitteln oder Schulen, in denen die Schüler nicht mehr die Schulbank drücken, sondern nur außerhalb der Klassenräume unterrichtet werden. Einige Versuche verzichten auf Stundenpläne und Klassen und setzen stattdessen auf projektabhängiges Lernen.

„Der Mangel an Bildungsreformen in vielen Ländern gibt Anlass zur Sorge“, so der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung, Aart De Geus. „Die Mitgliedstaaten der EU sollten alles daran setzen, um vor allem die Durchlässigkeit der Bildungssysteme und lebenslanges Lernen zu fördern. Ansonsten werden ‚Armutskarrieren‘ weiter vererbt und soziale Ungleichheiten zementiert.“

Versäumnisse bei Integration von Ausländern

Hinzu kommt, seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 mehr denn je, noch ein anderer Punkt: Auch Migranten und Asylsuchende müssen in das Bildungssystem erfolgreich integriert werden. Doch auch hier gibt die Studie den Mitgliedstaaten schlechte Noten.

Der Mangel beginnt laut den Experten schon bei der Armutsbekämpfung unter Ausländern, für die es in 15 EU-Mitgliedstaaten keine nennenswerten Maßnahmen gebe. Mit den hohen Zahlen an Flüchtlingen gelte es aber besonders für die EU-15, also die EU-Mitgliedstaaten vor der Osterweiterung von 2004, noch mehr Reformen anzustoßen.

In einigen Ländern war die Entwicklung hingegen negativ. Dänemark etwa hat die Sozialhilfe für Asylsuchende halbiert, statt mehr zu investieren. Im Gegensatz dazu hat Italien laut Meinung der Befragten sowohl für die Integration von Ausländern im Allgemeinen als auch von Flüchtlingen im Speziellen viel getan. So wurde die Registrierung der Asylbewerber verbessert. Flüchtlinge erhalten eine Aufenthaltsgenehmigung für sechs Monate und dürfen bereits nach zwei Monaten eine Arbeit aufnehmen.

Erschienen bei EurActiv.

Das europapolitische Onlinemagazin EurActiv und der Tagesspiegel kooperieren miteinander.

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