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Politik: Europa gibt’s nicht auf Rabatt

DIE EU UND DIE TÜRKEI

Von Christoph von Marschall

Langsam wird’s ungemütlich für die Gegner eines EUBeitritts der Türkei. Ausgerechnet unter dem religiöskonservativen Premier Recep Erdogan kommen die Reformen im Eiltempo voran. Die Todesstrafe ist abgeschafft, die kurdische Sprache in Radio und Fernsehen zugelassen, an der Spitze des Militärrats steht künftig ein Zivilist, die Armee muss ihr Budget offen legen – wenn das so weitergeht, kann man sich ja gar nicht mehr darauf verlassen, dass die das eh nie schaffen. Dann erfüllen sie womöglich noch die EU-Bedingungen. Und Erdogan tritt entsprechend selbstbewusst in Berlin auf. Schon vor dem Treffen mit dem Kanzler hat er Beitrittsgespräche 2004 gefordert. 75 Prozent der Bürger unterstützten seinen Weg nach Europa.

Das ist Erdogans Erfolg – aber auch einer der EU. Ihr Beitrittsangebot hat die Kräfte freigesetzt, die diese Revolution vorantreiben. Mit Staunen lernt Europa, dass der politische Islam offenbar ein geringeres Hindernis für die Europäisierung darstellt als der säkulare Staat, den Atatürk als Schutzwall gegen das moslemische Erbe errichtet hatte. Der ist autoritär, Militär und Altparteien schränkten die Grundrechte ein. Und wollten in die EU, ohne den Preis dafür zu bezahlen: den Wandel zur Zivilgesellschaft. Doch viele Deutsche sehen die Beitrittsperspektive keineswegs so positiv wie ihre Regierung. Sie spüren die Integrationsprobleme in ihren Städten, sie haben Angst vor der Zuwanderung von weiteren Millionen aus Anatolien. Kann die EU ein so großes moslemisches Land verkraften, ist Europa dann noch Europa?

Die Antwort: Dann ist die Türkei nicht mehr die Türkei, wie wir sie kennen. Das Land, wie es heute ist, kann nicht beitreten. Das geht erst, wenn es eine Demokratie und ein Rechtsstaat wird. Ohne Abstriche. Die EU darf nicht vergessen, dass sie neben ihrer Politik der ausgestreckten Hand auf der vollständigen Erfüllung der Beitrittsbedingungen beharren muss. Viele in der Türkei glauben, die Bedingungen ständen nur auf dem Papier; es reiche, Reformen zu versprechen, ihr Land sei so wichtig, da müsse die EU politisch entscheiden – für die Aufnahme. So darf es gerade nicht kommen.

Außergewöhnlich sind Ausmaß und Tempo des Wandels unter Erdogan nur im Kontrast zur jahrzehntelangen Reformverweigerung zuvor. Aus EU-Sicht hat das Land einen guten Start, ist aber weit davon entfernt, alle Kriterien zu erfüllen. Reformen auf dem Papier bedeuten nicht Beitrittsreife. Verfassungsänderungen nützen wenig, wenn nicht auch die Ausführungsgesetze angepasst werden. Und die müssen dann im Alltag Anwendung finden, bis tief in die Provinz. Die Regierung wendet sich gegen Folter, das erkennt Amnesty an, aber Folter ist immer noch verbreitet. In der EU darf man Moscheen bauen, mit Kirchen in der Türkei ist das nicht so einfach. Eltern verheiraten Minderjährige, Selbstjustiz wegen Ehrhändeln wird akzeptiert, das staatliche Gewaltmonopol gilt nicht überall. Ein deutsches Gericht hat soeben die Auslieferung des Islamisten Kaplan an die Türkei verboten, weil dort kein rechtsstaatliches Verfahren garantiert sei.

Die Türkei hat sich auf den Weg nach Europa gemacht, steht aber noch nicht vor seinen Toren. Wenn sie den Weg zu Ende geht, muss die EU sie aufnehmen, doch dann braucht auch niemand Angst vor dem Beitritt zu haben. Die Türkei wäre dann eine Bürgergesellschaft, in der Religion reine Privatsache ist und kein Beitrittshindernis. Ob die Türken ihr Land so sehr verändern wollen, müssen sie selbst entscheiden; eine EU-Begeisterung von 75 Prozent ist kein Beweis dafür. Sondern eher ein Beleg, dass die Türken nicht wissen, wie sehr die EU in ihren Alltag eingreifen würde.

Wenn aber die Türken die Sitten nicht aufgeben wollen, die in der EU keinen Platz haben? Dann können sie nicht beitreten. Was nicht heißt, dass man ihnen den Rücken kehrt. Europa hat das Interesse, das demokratischste Land im islamischen Raum an sich zu binden. Auch die Türkei hat keine Alternative zu Europa. Bisher kannte die EU nur drinnen und draußen, jetzt entwickelt sie etwas Neues: verstärkte Nachbarschaft. Deutlich mehr als Zollunion und lockere Kooperation, weniger verbindlich als volle Integration. Vielleicht ist das ein Angebot für einen stolzen Partner wie die Türkei. Der selbstbewusst wählt, was er will. Und einen Beitritt auf Rabatt nicht nötig hat.

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