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Politik: Europa macht den Europäern Angst

GELD, ETHIK, VERFASSUNG

Von Christoph von Marschall

Wer ist hier der Schurke – Berlin oder Brüssel, der Nationalstaat oder Europa? Drei Beispiele aus dieser Woche: Stabilitätspakt, Embryonenforschung, Verfassungsentwurf.

Beim Schuldenmachen haben sich Deutschland und Frankreich gegen die EU-Kommission durchgesetzt. Das Urteil der Medien ist verheerend, in Amerika, Asien und Europa – Eichel & Co. gefährdeten mittelfristig die Stabilität des Euro. Auch für die meisten deutschen Kommentatoren hat diese Gefahr Vorrang vor dem patriotischen Argument: Brüssel dürfe Schröder nicht zwingen, den Aufschwung kaputtzusparen. Wer schützt das Interesse der Euro-Bürger vor dem Egoismus nationaler Regierungen?

Die EU-Kommission wollte Embryonenforschung, die in Deutschland verboten ist, aus gemeinsamem Steuergeld finanzieren, die Forschungsminister haben Einspruch erhoben. Warum sollte Europa vorschreiben, was ethisch vertretbar ist? Wer schützt die nationalen Gesellschaften vor einer EU, die alle Entscheidungen an sich ziehen und vereinheitlichen will? Gewissen lässt sich nicht nivellieren.

Neapel heute und morgen. Die Regierungskonferenz versucht den Streit um die künftige Verfassung beizulegen. Außenminister Joschka Fischer schwänzt dafür sogar den grünen Parteitag; der heimliche Vorsitzende wird in Dresden nur kurz auf Videoleinwand zugeschaltet. Vielen kleinen EU-Staaten macht die Dominanz der Großen Angst. Die Machtdemonstration in Sachen Stabilitätspakt hat ihre Furcht verstärkt. Wenn Deutschland und Frankreich sich so rücksichtslos über die Vorschriften zur Haushaltsdisziplin hinwegsetzen und willige Helfer finden: Wer schützt dann die Vertragstreuen vor den Regelbrechern? Und wer die kleinen vor den mächtigen Staaten?

Darauf gibt es zwei Arten von Antworten: institutionelle und psychologische. Man muss das Regelwerk verfeinern, die Verfassung ist ein epochaler Schritt. Aber das hilft nur, wenn parallel dazu eine Ethik des Miteinanders wächst.

Europa hat einen großen Bewusstseinswandel erlebt, besonders Deutschland. Nach dem Krieg galt Europa als Antwort auf die meisten Probleme, als Frage von Krieg oder Frieden. Durch Integration würden die nationalen Gegensätze verschwinden; Brüssel bekam immer mehr Kompetenzen: Kohle, Stahl, Landwirtschaft, den Binnenmarkt, das gemeinsame Geld. Doch mit immer mehr Europa wuchsen auch die Bedenken gegen diese Automatik. Woher sollte das ferne Brüssel besser wissen, was die richtigen Lösungen für lokale und regionale Alltagsprobleme sind? Und warum sollte überall das Gleiche richtig sein? Spätestens seit dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 sind die Nationalstaaten rehabilitiert; EU-Europa wird sie nicht ersetzen. Die Kompetenzabgrenzung ist ein Kern der künftigen Verfassung.

Nach Lage der Dinge sind die nationalen Regierungen noch immer am längeren Hebel. Bei der Bioethik ist das beruhigend, beim Stabilitätspakt fragwürdig. Der Euro ist da, der Weg zurück zum nationalen Geld versperrt. Müssten dann nicht die Vertreter des gemeinsamen Stabilitätsinteresses so stark sein, dass sie sich gegen nationale Egoismen durchsetzen? Die EU-Kommission ist die Hüterin der Verträge. Es ist nur folgerichtig, dass sie eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof prüft. Doch das ist juristisches Neuland, sie darf es nur tun, wenn sie gute Aussichten hat, zu gewinnen. Verliert sie nach dem Machtkampf auch die Klage, stände es schlecht um den Euro.

Die bessere Antwort wäre eine gelebte Ethik des Miteinanders: Selbstbescheidung auf das, was jedem zukommt. Mag sein, Deutschland und Frankreich haben die Macht, sich über die Interessen der Kleineren hinwegzusetzen oder den Buchstaben des Paktes gegen seinen Geist zu wenden. Aber das gibt ihnen nicht das Recht, es zu tun. Sie handeln kurzsichtig, schaden sich selbst, wenn sie das Misstrauen der Partner schüren. Die Kleinen dürfen es mit den Schutzmechanismen nicht übertreiben, sonst wird das Europa der 25 oder mehr handlungsunfähig. Und die Kommission darf sich nicht Zuständigkeiten anmaßen, die ihr in den Augen der Bürger nicht zustehen. Nur dann hat sie die Autorität, gegen nationale Regierungen zu intervenieren, wo das im Gemeinschaftsinteresse nötig ist. Nur wenn Europa die Furcht vor Europa besiegt, wird es wieder zur Hoffnung.

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