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Europa: 100 Gründe, sich über Europa zu freuen ...

... und manchmal ein bisschen zu ärgern. Wo Europa liebenswürdig oder auch lästig ist - und was uns in Europa fehlt. Eine Auflistung in 100 Punkten, ohne Gewähr.

1. Grenzenlose Mobilität: Auch Brüsseler Partyvolk macht sich am Freitagabend im Billigflieger auf den Weg nach Berlin – und am Sonntag auf den Rückweg.

2. Die französische Sprache: „La règle d’or“ klingt doch schon viel angenehmer als die brachiale deutsche „Schuldenbremse“ – obwohl dasselbe gemeint ist.

3. Europa ist: Das gute Gefühl, unkompliziert umziehen zu können nach Mallorca oder Gran Canaria, wenn man irgendwann mal Lust dazu bekommt. Die Freiheit, wählen zu können.

4. Aufzuwachsen neben Straßburg – nur ein paar Kilometer weiter und doch eine ganz andere Welt.

5. Keine Long-Distance-Flüge, um Spektakuläres zu erleben: Wer braucht die Rockies, wer Neuseeland – wir haben die Alpen!

6. Nervige Selbstzweifel: Eigentlich geht es uns doch so gut, und dennoch können die Europäer nicht anders, als immer wieder das Erreichte in Frage zu stellen.

7. Friede: Ein Blick ins Geschichtsbuch genügt – Gewalt prägte die Vergangenheit des Kontinents bis zur Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Heute ist Krieg zwischen Mitgliedern der EU unvorstellbar. Was für ein Geschenk!

8. Allein die Hymne: „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum.“ Muss man mehr sagen?

9. Vielfalt erschmecken: Im Supermarkt ist Nationalismus was Leckeres. Zu den schönsten Urlaubsvergnügen gehört doch, in den Regalreihen auf Jagd nach Produkten zu gehen, die noch nicht EU-normiert worden sind.

10. Wunderbar an Europa ist, dass es Amerikanern regelmäßig den Satz entlockt: „You Europeans have so much culture.“

Dolce Vita

Frankreich. Das Plaza Athenee Hotel in Paris.
Frankreich. Das Plaza Athenee Hotel in Paris.

© AFP

11. Vor 40 Jahren: Selbst vom Rhein aus fast eine Weltreise, mein erstes Mal Paris. Erstaunt, überwältigt, manchmal ängstlich. Wenn ich heute nach wenigen Stunden ab Köln im Gare du Nord aus dem TGV steige, ist der Duft der Croissants noch genauso köstlich wie damals. Aber zu wissen, dass ich immer noch in meinem Land bin, in Europa: Das geht mir ans Herz.

12. Von wegen Dolce Vita: Norditaliener sind die besseren Deutschen. Wer in Verona oder Padua falsch parkt, wird nach einer halben Stunde rigoros abgeschleppt.

13. Eierkuchen: Crêpes, Palatschinken, Nalesniki, Poffertjes, Galettes, Frarinata, Pannukakku – alle lecker, von Frankreich bis Finnland.

14. Damit rechnet ja keiner: Dass man als Deutscher von Spanien aus keine Überweisung durchführen kann. Nicht am Automaten, nicht am Schalter. Deshalb rechnen sie in den Banken täglich mit den ratlosen Gesichtern der Touristen. Es geht nur: Online-Banking.

15. Große Fluchten: Von Tampere in Finnland nach Faro an der portugiesischen Algarve – für den Nord-Süd-Trip durch Europa braucht man keinen Pass, nur Zeit. 4316 Kilometer sind es, davon 3832 auf der Autobahn. Wie viele davon hat wohl die EU bezahlt?

16. Franzosen und Italiener haben die überlegene Esskultur. Das zeigt sich schon im Speisewagen. Das Mobil-Essen der Nachbarn schmeckt viel besser und kommt nicht aus der Mikrowelle.

17.Jeder nach seiner Façon: Seit der EU-Erweiterung 2004 ist ein neuer Sound in Brüssel zu hören – Englisch mit unverwechselbarem osteuropäischen Akzent.

18. Europa sorgt dafür, dass Deutschland in Europa ist. Wäre Deutschland nicht in Europa, wäre das schlecht für Europa und für Deutschland noch schlechter.

19. Schön, dass man einfach so über die Grenze kann. Vor einigen Jahren, eine Wanderung kurz vor Weihnachten, von Sachsen rüber nach Tschechien, der Schnee liegt meterhoch, es schneit. Man geht einfach so rüber, keiner kontrolliert, keiner hält einen auf. Nun ja, fast. Ein Rufer, in gebrochenem Deutsch: „Hey, umkehren, das ist doch nicht das richtige Wetter zum Wandern.“

20. Gelebtes Europa ist, wenn die Tochter zweier Deutscher in Italien gezeugt wurde, weil ihr Vater in der Villa Massimo ein Stipendium erhalten hatte – und die Angetraute für ein paar Tage mitkommen durfte. Selbstverständlich erhält die Tochter einen italienischen Namen.

Duzen

Die Niederlande. Blick auf historische Grachtenhäuser in Amsterdam.
Die Niederlande. Blick auf historische Grachtenhäuser in Amsterdam.

© dpa

21. Schwurbel: Im EU-Jargon heißt die „flexible Solidarität“ für Osteuropäer in der Flüchtlingspolitik nun „effektive Solidarität“, funktioniert aber trotzdem nicht.

22. Was fehlt: Ein gemeinsamer Feiertag, ein Europa-Tag, an dem in der EU alle frei haben und ähnliche Rituale zelebrieren, ein Festmahl zum Beispiel mit Tapas aus den Küchen aller beteiligten Länder. Noch gibt es keine europäische Antwort auf das amerikanische Thanksgiving.

23. „Toi“: Wie Berliner Ministeriumssprecher nutzen auch Brüsseler Kommissionsleute oft hölzerne Floskeln – aber sie duzen immerhin Fragesteller im Pressesaal.

24. Was charmant ist: Auf dem Markt von Santarcangelo in einem klapprigen alten Lieferwagen eine bestickte blaue Hose anprobieren. Das aufrichtig klingende „Perfetto, Signora“ der rundlich herzlichen Verkäuferin zu glauben – und dann unkompliziert in Euro bezahlen können.

25. Europhile Briten: Auch Briten können an Europa glauben – zumindest der britische Journalist, der demnächst vielleicht einen belgischen Pass beantragen will.

26. Diversität: Verschieden sein können und trotzdem gemeinsame Werte haben wollen.

27. Die Londoner sind fast immer im Stress – aber auch fast immer sehr freundlich. Lässt sich das auch von uns Berlinern sagen? Und es regnet viel seltener, als man in Deutschland denkt.

28. Wer mit dem Fahrrad im Schwarzwald unterwegs ist, träumt von Holland: Die höchsten Erhebungen dort sind die Deiche.

29. Meine Tochter fuhr im Sommer mit dem VW-Bus von Berlin nach Portugal, logischerweise durch Frankreich und Spanien. Fragte man sie, wo sie im Sommer in Urlaub war, sagte sie: in Frankreich, Spanien und Portugal. Staunen allerseits.

30. Beware of pickpockets: Wer am Brüsseler Bahnhof „Midi“ Richtung Flughafen einsteigt, sollte sich in Acht nehmen – vor Taschendieben.

Schönheit

Italien. Die Rialto-Brücke in Venedig.
Italien. Die Rialto-Brücke in Venedig.

© dpa

31. Schön: Auf dem Lido in Venedig spazieren und die Restaurants betrachten, die „Touristen-Menüs“ anbieten. Wie früher, als man sich noch fremd fühlte und nicht auch daheim in Berlin zwischen Ristorantes unterschiedlichster Preisklassen und Ausrichtungen wählen konnte.

32. Die Alten, die Jungen, die Ossis, die Wessis, die ziemlich erfolgreichen ziemlich besten Freunde und die abgefahrenen Autorenfilmer, Loach und Frears und Haneke und Kaurismäki, Lars von Trier, Isabelle Huppert, Charlotte Rampling, Maren Ade, Cristian Mungiu, Pedro Almodovár und seine Diven und noch ein paar mehr: Was wäre das Kino ohne den europäischen Film!

33. In Europa unterwegs zu sein, heißt: Man sollte Englisch sprechen können. Überall kommt man damit weiter, nette Gespräche ergeben sich. Es sei denn, man ist erst sieben Jahre alt, zweites Schuljahr. Dann sieht man in die Röhre. Englisch wird (zumindest in Berlin) erst ab dem dritten Schuljahr gelehrt. Schade.

34. Am Grenzübergang von Deutschland nach Österreich im März: elendig langer Stau wegen Passkontrollen. Auf dem Heimweg sind wir schlauer, wir nehmen die Landstraße, über den Achensee. Keine Wartezeiten, keine schlechte Laune, dafür tolle Landschaften. Jederzeit wieder so!

35. Freude, schöner Götterfunken: Hätte die EU den Schlusschor aus Beethovens „Neunter“ nicht zu ihrer Hymne gemacht, der Komponist wäre heute ein unbekannter Kleinmeister aus einem Provinzkaff namens Bonn.

36. Portugal, Algarve: Die Autobahnen sind immer frei (kein Vergleich zu den Stränden!). Und im Herbst wurde auch noch die Maut drastisch gesenkt.

37. An tAontas Eorpach: Das heißt „Europäische Union“ auf Irisch. Das ist nur eine von 24 Amtssprachen der EU. Alle Verträge und Dokumente werden auch auf Maltesisch übersetzt (Unjoni Ewropea). Was für ein Aufwand – und was für ein reicher Kulturschatz.

38. London/England: Das Essen ist gar nicht schlecht, sondern sehr schmackhaft, man muss ja nicht nur Fisch and Chips essen.

39. Was seltsam ist: Von Belfast nach Dublin fahren und sich fragen, wann die Grenze vom Pfund zum Euro überschritten sein wird. Nur für den Fall, dass plötzlich der Kaffeedurst kommt.

40. Der Deutsche, der die Idee hatte, mit Italienern eine gemeinsame Währung zu schaffen, hatte nicht Vernunft im Sinn, sondern Schönheit. Er wusste: Die gibt es nur gegen Geld.

Schlechtes Englisch

Irland. Eine Irin mit Wolfshund bei Newgrange.
Irland. Eine Irin mit Wolfshund bei Newgrange.

© Reuters

41. Was man verbessern könnte: Das Miteinander sollte mehr zur Geltung kommen. Nur zusammen können wir auch was erreichen. Ich hoffe ja immer noch, dass die Engländer das noch einsehen, denn noch sind sie Europäer.

42. Telefonieren von Deutschland nach Italien – wenige Minuten kosten 20 Euro.

43. Pietro Bartolo, der einzige Arzt auf Lampedusa, heimlicher Held des Berlinalesieger-Films „Seefeuer – Fuocoammare“. Seit 25 Jahren untersucht er die Bootsflüchtlinge, auch die Toten. Mehr als 250.000 Menschen sind es inzwischen. Er sagt: „Hier gilt das Gesetz des Meeres. Man hilft den Schiffbrüchigen.“ Europa braucht mehr Bürger wie Pietro Bartolo.

44. Die deutsche Europa-Debatte: Sie schwankt zwischen himmelhoch jauchzend (inclusive der Forderung nach einer EU-Armee) und zu Tode betrübt.

45. Im Oktober am westlichsten Punkt Europas gestanden (in Portugal): Schön. Beeindruckend. Schroff. Weite. Ein Gefühl von Unendlichkeit. Leider ist das Selfie unscharf.

46. Die Tochter ist mit dem Europäischen Freiwilligendienst in Belgien. „Bitte seid mir nicht böse“, sagt sie auf die Frage, ob sie Weihnachten nach Hause kommt, „aber ich habe hier so viele nette und interessante Leute kennengelernt, wir wollen zusammen feiern.“

47. So viele verschiedene Hymnen – und eigentlich alle wunderschön. Obwohl: Die allerschönste ist die gemeinsame. Vielleicht reicht ja auch eine für alle?

48. Leider hat ein mehr an Europa nicht zu einem mehr an Lust auf Fremdsprachen geführt, so dass einem im deutschen Fernsehen dänische oder britische Krimiserien noch immer nur synchronisiert zugemutet werden. Lauscht und lest!

49. Im Krankenhaus von Urbino, der Arzt hat den dicken Knöchel geröntgt und verbunden. Was das kostet? „Nichts“, sagt der Arzt ein wenig überrascht, „Pronto Soccorso“, die Erste Hilfe, „ist für Ausländer in italienischen Krankenhäusern kostenlos.“

50. In ganz Europa kann man sich mit einer einzigen Sprache durchschlagen: schlechtem Englisch.

Martin Sonneborn

Großbritannien. Die Familie der Königin.
Großbritannien. Die Familie der Königin.

© imago/i Images

51. Europa ist einzigartig – weil ein Travestiekünstler mit Vollbart einen Gesangswettbewerb gewinnen kann.

52. In Momenten der Langeweile kann man die Rückseite von Euro-Münzen bewundern und rätseln, zu welchem Land wohl die Harfe gehört.

53. Warum Europa? Wegen der Champions League. Weil der FC Bayern da auf ernstzunehmende Gegner trifft.

54. Wer sonst hätte uns den Ohrwurm „The final countdown“ geschenkt?

55. Die Temperamentsfrage: Die Schweizer glauben, die Deutschen seien zu laut. Die wiederum glauben, die Franzosen seien zu laut. Die wiederum glauben, die Italiener seien zu laut.

56. Martin Sonneborn ist in Brüssel noch viel lustiger.

57. Die Uefa: Weil arabische Staaten sich weigern, ihre Nationalmannschaften gegen Israelis antreten zu lassen, hat der Europäische Fußballverband Israel aufgenommen.

58. Fürs Sonnenbaden auf den französischen Karibikinseln brauche ich nur meinen Reisepass und ein paar Euros.

59. Die Queen, Diana, Prinz William, Prinz Harry – irgendwie gehört das britische Königshaus mit seinen Eskapaden doch auch zu uns. Und das Beste: Es kostet uns keinen Pfennig.

60. Gemeinsame europäische Werte? Die wurden immer herangezogen, wenn es um die (Nicht-)Aufnahme der Türkei ging – mit Blick auf das Polen der PiS-Partei oder Orbáns Ungarn sind sie ein Witz.

Mein Vater war im Krieg

Griechenland. Die Akropolis in Athen.
Griechenland. Die Akropolis in Athen.

© picture alliance / dpa

61. Eurodance, die schlimme musikhistorischen Weiterentwicklung des Europop der 1970er (Abba, Boney M) in eine Sackgasse. Radiosender, Fitnessstudio- und Rummelplatzbetreiber quälen Besucher bis heute mit „Rhythm Is A Dancer“ von Snap! oder „It’s My Life“ von Dr. Alban aus den 90ern. Der Rest der Welt schüttelt darüber zu Recht so den Kopf wie über Indiens Bollywood-Filme.

62. Wer im südostasiatischen Laos Croissants bestellt, findet bald knusprige, duftend-warme Originale auf seinem Teller wieder – die es so sonst nur in Frankreich gibt. Und fühlt sich plötzlich wie „zu Hause“ in Europa, trotz 11000 Kilometer Entfernung. Eines der schöneren Relikte der vielerorts unheilbringenden Kolonialisierung der Welt durch die Europäer.

63. Wenn die Europameisterschaft im Fußball stattfindet, ist man als Deutscher natürlich für ’Schland. Wenn Deutschland aber nicht spielt, dann singt man auch gerne mit den nordirischen Fans ihr „Will Grigg’s on Fire“ mit oder lässt ein kräftiges „Huh“ für die netten Isländer hören – Hauptsache: Europäischer Fußball.

64. Europa – die schöne Königstochter aus Phönizien (ein Gebiet, das heute ein Teil von Israel, Libanon, Syrien wäre) wurde der mythologischen Sage nach vom verliebten Göttervater Zeus, der sich als Stier tarnte, entführt und nach Kreta verbracht. Sie gab dem unbekannten Erdteil ihren Namen und wurde so selbst unsterblich. Europa ist Leidenschaft.

65. Als sich Barack Obamas wichtigste Europaberaterin Victoria Nuland in einem Telefonat 2014 einen diplomatischen Fauxpas leistete und zum US-Botschafter in der Ukraine sagte „Fuck the EU!“, unterlegte der deutsche DJ Acid Pauli nur kurze Zeit später das mitgeschnittene Telefonat mit einem tanzbaren Electrobeat und machte einen Hit daraus. Europäer können auch Selbstironie.

66. In Bernau aufs Rennrad steigen, 90 Minuten später ist die Oder bei Hohenwutzen erreicht. Keine Grenzer mehr, keine Fragen mehr, kein Ausweis mehr nötig. Einfach über die Brücke rüber. Und polnische Landstraßen sind viel schöner als der Oder-Neiße-Radweg mit seinen zahllosen langsamen Sonntagsradlern.

67. Ich flog vor einigen Jahren von Berlin nach Zürich. Ich ging (nach mehrmals Pass vorzeigen) durch die xte Kontrolle durch. Ich wurde rüde zurückgepfiffen: „Ihren Pass bitte!“ Ich: „Was? Schon wieder?“ Der Beamte entrüstet: „Also bitte, Sie verlassen den Schengen-Raum!“

68. Es gibt bestimmte Anbieter, die wollen dass in ganz Europa ihr Kaffee getrunken wird – weil er überall dieselbe Qualität haben soll. Aber ist es nicht toll, wenn man in Italien unterschiedlichste Espressi bekommt und in Österreich den kleinen Braunen, einen Melange, einen Einspänner oder Kaffee im Häferl? In Kroatien ist es der Minas, in Griechenland der Mokka. Kaffee muss, nein, er sollte nicht überall in Europa gleich schmecken! Wer unterwegs nicht unbedingt den Latte Macchiato als Coffee-to-go mitnimmt, hat auf dem Weg in den Urlaub schon eine kleine wohlschmeckende Vielfalt Europas probiert.

69. Mein Vater musste als Soldat in den Krieg, seine Töchter konnten sich frei in Europa bewegen. Unfassbar, dass jetzt wieder über Grenzen gestritten wird.

70. Tastaturen-Salat: Wer regelmäßig sowohl ein deutsches als auch ein französisches Keyboard benutzt, kommt durcheinander – aus „a“ wird „q“.

Das älteste Gewerbe

Deutschland. Das Brandenburger Tor mit Chanukka-Leuchter und Weihnachtsbaum.
Deutschland. Das Brandenburger Tor mit Chanukka-Leuchter und Weihnachtsbaum.

© dpa

71. Engländer, die für den Brexit gestimmt haben, sind ausnehmend herzlich, auch wenn sie Deutsche vor sich haben. So werden sie uns nie los.

72. Wer auf der portugiesischen Insel Madeira von Dorf zu Dorf fährt, benutzt die vierspurige Autobahn, die die EU gebaut hat, obwohl sie nicht gebraucht wird. Aber dadurch haben die wenigen Autos mehr Platz. Die Autobahnabfahrten enden dankenswerterweise kurz vor dem Dorfeingang und gehen da in eine Huckelpiste über. Jenseits davon ist zum Glück noch alles beim alten.

73. Was fehlt, ist die Türkei, die wir noch vor wenigen Jahren – sei es im Urlaub in Antalya oder beim Kulturtrip nach Istanbul – sofort in die EU aufnehmen wollten.

74. Im sizilianischen Trapani betrachtet ein naiver deutscher Student Anfang der 80er Jahre die Karfreitagsprozession. Neben sich ein sizilianischer Familienvater mit Frau und zwei wohlgeratenen Töchtern, die alle kein Deutsch können. Im Gegensatz zum Vater, der zehn Jahre bei Bosch gearbeitet hat. Fragt der Vater mit lauter Stimme in tiefstem Schwäbisch den Studenten, ob er die Bordelle in Trapani schlechter fände als die in Deutschland. Und genoss das verlegene Gesicht des Studenten ebenso wie den Umstand, dass seine Familie nichts verstand. Der Student aber erfuhr so, dass es das älteste Gewerbe der Welt war, das als erstes der internationalen Konkurrenz des Binnenmarkts ausgesetzt wurde.

75. Offene Augen: Europa sucht Aufschluss über seine Vergangenheit. Schlüsselorte sind die Sigmund-Freud-Museen in Wien wie London, denn Freud als Forscher war der Columbus des Unbewussten.

76. Couragiert: Europa konfrontiert sich mit sich. Kronzeugen sind die Holocaust-Gedenkstätten, beispielhaft Ausstellungen wie Yperns „In Flanders Fields“, und der Plan für das im Juni 2018 eröffnende, kolonialkritische Museum Tervuren in Brüssel.

77. Was fehlt? Selbstsicherheit. Die EU kommuniziert ihren politischen und ethischen Reichtum nicht: die Schranken überwindende Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, den Säkularismus, die zweieinhalb Generationen Frieden. EU-Fahne? Euro-Geldscheine? Brüssels Bürokratie? Mehr muss her.

78. Landschaften: Alles ist da. Küsten, Strände: Skandinaviens Fjorde, Nordsee, Ostsee, die Normandie, das Türkis des Mittelmeers, die Algarve. Berge, Gebirge: Taunus, Alpen, Pyrenäen, Karpaten, der Appenin. Europa entdecken! Das Motto für 2017.

79. Selbstbewusste Griechen: Vasili steht am Strand auf der griechischen Insel Kos. Flugzeuge starten am nahen Airport. „Die fliegen nach Europa“, deutet er in Richtung Norden.

Selbstbewusste Französinnen

Die EU. Eine gekrümmte Gurke.
Die EU. Eine gekrümmte Gurke.

© imago stock&people

80. Nachrichten aus aller Welt: Die britische Nachrichtenagentur Reuters meldet aus dem indischen Bangalore, dass der amerikanische Sportartikelkonzern Nike gute Geschäfte in China und Europa macht.

81. Passagier ohne Pass: Die Tasche wird im Biergarten geklaut, samt Reisepass. Macht auch 2016 nichts. In Barcelona, Nizza und Amsterdam gilt der deutsche Personalausweis.

82. Die Briten haben sich vertan, das wissen sie jetzt auch. Hoffen, dass nach dem Brexit der Brexit-Exit kommt.

83. Bei der ersten europäischen Einigung legten die Herrscher des alten Rom die Regeln fest. Es funktionierte jahrhundertelang, bis die Barbarei der Germanen siegte. Im jetzigen Europa muss Rom Regeln befolgen, auf die die Deutschen Wert legen. Zum Glück sind die Italiener keine Barbaren.

84. Salsiccia, Ratatouille, Aioli – Europa hat unsere Küche enorm bereichert.

85. Europa hat viel Macht, aber oft an der falschen Stelle. Mehr gemeinsame Verteidigungs-, Fiskal- und Sozialpolitik würde zu große Unterschiede zwischen den Staaten reduzieren und Europa als Gesamtkonstrukt stärken.

86. Wissen Sie, wer Vladis Dombrovskis ist? Er ist Vizepräsident der EU-Kommission mit Zuständigkeiten für den Euro und die Finanzstabilität. Nicht ganz unwichtig, aber sicher ist er nur wenigen bekannt. Zu oft ist die EU ein Projekt für Polit-Insider, auch weil ihre Verantwortlichen zu wenig Einfluss haben.

87. Fassungslos stellen meine Töchter in Krakau fest, dass sie nicht mit Euro bezahlen können. „Ist Polen nicht in Europa?“ So selbstverständlich ist der europäische Gedanke für sie.

88. Selbstbewusste Französinnen: Am Flughafen in Paris faucht eine Angestellte bei der Gepäckaufgabe einen sehr ungeduldigen Fluggast mit den Worten an: „On n’est pas vos esclaves!“ („Wir sind nicht eure Sklaven!“)

89. Europa versüßt das Warten. Alle vier Jahre eine WM? Wäre kaum auszuhalten. Einmal im Jahr ein Deutscher Meister? Schwer schleppte sich das Jahr dahin. Europa garantiert uns auch dazwischen Höhepunkte: bei der EM und der Champion League.

90. Die Krümmung der Gurke steht für den Drang der EU, alles vereinheitlichen zu wollen. Die Regelung wurde dann ja auch kassiert. Anderes wünschte man sich überall, den Kreisverkehr für kleineren Kreuzungen beispielsweise. Er entschleunigt. Keiner wartet unnötig an der Ampel. Und die Radler fahren nicht bei rot.

Der Rest der Welt

Italien. Augustus von Primaporta in den Vatikanischen Museen.
Italien. Augustus von Primaporta in den Vatikanischen Museen.

© dpa

91. Nazi-besessene Briten: Als ich in Großbritannien studierte und abends mit einer Britin Scrabble spielte, meinte die angesichts eines Sechs-Buchstaben-Wortes: „Come on, you want to do Hitler, don’t you?“

92. Damit rechnet ja keiner: Dass man als Deutscher von Spanien aus keine Überweisung durchführen kann. Nicht am Automaten, nicht am Schalter. Deshalb rechnen sie in den Banken täglich mit den ratlosen Gesichtern der Touristen. Es geht nur: Online-Banking.

93. Europa fehlt eine rationale Einwanderungspolitik. Statt sich die Zuwanderer auszusuchen, lässt man lieber knapp 5000 Menschen im Mittelmeer ertrinken und lässt Hunderttausende in Italien und Griechenland in provisorischen Lagern vegetieren.

94. Heiraten ohne viel Papierkram: Lediglich Übersetzungen der Dokumente sind nötig und ein paar Behördenanfragen. Wer einen Afrikaner heiratet, weiß Europa zu schätzen.

95. Europa und insbesondere die Europäische Union erklärt sich nicht selbst. Wer wissen will, wie sie funktioniert, sollte zu den Broschüren für Kinder greifen. Nur dort ist die Schönheit von Kooperation und Kompromiss erkennbar.

96. Kleine Fluchten: Kein Bock auf kalten Januar-Nebel? Easyjet fliegt Sie aus, am 1. Januar zum Beispiel nach Malaga, Barcelona, Palma de Mallorca, Nizza, Neapel, Thessaloniki oder Athen. Bei der Ankunft die schnelle Spur für EU-Bürger wählen!

97. Waren Wahlen in den Niederlanden jemals spannend? Jetzt schon: Mitfiebern, dass die Populisten und Menschenverächter um Geert Wilders nicht siegen und dieses einmalige Europa zerstören können.

98. Waren Wahlen in Frankreich jemals spannend? Jetzt schon: Mitfiebern, dass die Populisten und Menschenverächter um Marine Le Pen nicht siegen und dieses einmalige Europa zerstören können.

99. Europa fehlt der Wille, Klimaschutz als Modernisierungsprogramm für die Zukunft zu sehen. Die Entscheidungen beim Emissionshandel sind ängstlich, der Ehrgeiz begrenzt. Damit verliert Europa seine Vorreiterrolle.

100. Zu wissen, dass uns fast der gesamte Rest der Welt beneidet, hier leben zu können.

Autoren: Andreas Austilat, Ariane Bemmer, Elisabeth Binder, Amory Burchard, Claudia Cohnen-Beck, Dagmar Dehmer, Andrea Dernbach, Caroline Fetscher, Katja Füchsel, Frederik Hanssen, Stephan Haselberger, Jörn Hasselmann, Lutz Haverkamp, Sabine Hölper, Kevin Hoffmann, Moritz Honert, Joachim Huber, Angela Lattanzi, Sebastian Leber, Arno Makowsky, Albrecht Meier, Hans Monath, Henrik Mortsiefer, Susanna Nieder, Andreas Oswald, Christiane Peitz, Angie Pohlers, Petra Richter, Ronja Ringelstein, Juliane Schäuble, Christian Tretbar

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