zum Hauptinhalt
Viele Flüchtlinge kommen über die sogenannte Balkanroute.

© dpa

Europa und die Flüchtlinge: Der EU fehlt eine gemeinsame Linie

Obwohl so viele Asylbewerber kommen, tut sich die EU schwer mit Gemeinsamkeit. Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es?

Auch am Dienstag waren wieder viele Flüchtlinge auf der Balkanroute unterwegs, die von Griechenland über Ungarn und Österreich nach Deutschland führt. Angesichts der anhaltenden Krise erneuerte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihren Appell, dass die europäischen Mitgliedstaaten zu einer fairen Verteilung der Flüchtlinge kommen müssten. Trotzdem zeichnet sich weiter keine gemeinsame Linie in der EU im Umgang mit den Asylbewerbern ab.

Ist das „Dublin“-Verfahren zur Aufnahme von Asylbewerbern gescheitert?

Schon vor der politischen Sommerpause hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) festgestellt, dass das „Dublin“-System „erodiert“. Gemeint war damals, dass vor allem das mit der großen Zahl von Flüchtlingen überforderte Italien nicht mehr alle Asylanträge derjenigen Menschen bearbeitet, die dort zum ersten Mal EU-Territorium betreten. Vielmehr ließen die italienischen Behörden die Flüchtlinge schon damals quasi ungeprüft nach Deutschland weiterreisen. In den vergangenen Tagen hat sich die Situation noch einmal verschärft. Ungarn ließ Züge voller Flüchtlinge nach Österreich fahren, und deren Kontrolle war an der Grenze für die dortigen Behörden nicht mehr zu leisten. De Maizière müsste nun eigentlich sagen, dass das „Dublin“-System inzwischen „kollabiert“ ist.

Die jüngste Zuspitzung macht deutlich, dass die bisher geplanten Gegenstrategien auf EU-Ebene nicht funktionieren. Ende Juni war die EU-Kommission mit dem Versuch gescheitert, 40 000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland über die Gemeinschaft zu verteilen. Anschließend konnten sich die EU-Staaten lediglich darauf einigen, dass 32 000 Flüchtlinge auf freiwilliger Basis auf dem Gebiet der Europäischen Union verteilt werden sollen. Die Zahl wirkt verschwindend gering angesichts der 800 000 Asylbewerber, die allein Deutschland in diesem Jahr erwartet werden. Eigentlich ist vorgesehen, dass nach der „Dublin“-Regelung Asylverfahren in dem Mitgliedsland der EU durchgeführt werden müssen, in dem die Flüchtlinge erstmals den Boden der EU betreten. Doch diese Regelung steht nur auf dem Papier – genauso wie die Forderung, dass es in sämtlichen EU- Staaten vergleichbare Aufnahmebedingungen geben soll.

Wie reagiert die EU-Kommission?

Die EU-Kommission kündigte am Dienstag nicht nur an, dass ihr Präsident Jean-Claude Juncker rechtzeitig vor einem Krisentreffen der EU-Innenminister am 14. September neue Vorschläge machen will. Zudem soll nun auch verstärkt juristisch gegen die Mitgliedstaaten vorgegangen werden, die die Regeln nicht einhalten. Seit Inkrafttreten der 2013 verabschiedeten gemeinsamen Asylregeln hat die Brüsseler Behörde 32 entsprechende Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. „Mehr werden nun folgen“, sagte eine Kommissionssprecherin am Dienstag. Zuvor hatte die Kommission weitere Mahnschreiben verschickt. „Wir sind entschlossen, diese Regeln durchzusetzen. Denn die EU kann auch im Schengen-Raum nur funktionieren, wenn sich alle daran halten“, sagte die Sprecherin.

Dies ist auch der Zweck eines Treffens von Juncker mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, der am Donnerstag in Brüssel erwartet wird. Im Gespräch ist, dass die übrigen EU-Staaten seinem Land – im Gegenzug für eine Einhaltung der Regeln – wie Griechenland und Italien auch Flüchtlinge abnehmen könnten. Zumindest könnte Ungarn auch einen der geplanten „Hot Spots“ bekommen, die die EU plant: Experten der Grenzschutzagentur Frontex, der europäischen Polizeibehörde Europol sowie des europäischen Asylamtes sollen die Mitgliedstaaten künftig stärker bei der Registrierung von Flüchtlingen unterstützen.

Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel hält das ungarische Vorgehen dagegen für einen „aus innenpolitischen Gründen absichtlich herbeigeführten Kollaps des ’Dublin’-Systems“. Orbans Regierung habe sich nie adäquat auf die steigenden Flüchtlingszahlen vorbereitet und auch keine EU-Hilfe beantragt, sagte sie.

Wer ist verantwortlich für das Chaos an den Grenzen zwischen Ungarn, Österreich und Deutschland?

Ungarn, aber auch Österreich werfen der Bundesregierung vor, selbst dafür verantwortlich zu sein, dass das „Dublin“-Verfahren inzwischen zur Makulatur geworden ist. Tatsächlich wurde die jüngste Entwicklung nicht zuletzt durch die Ankündigung der Bundesregierung ausgelöst, dass syrische Flüchtlinge, die Deutschland erreicht haben, aus humanitären Gründen nicht mehr in Länder mit EU-Außengrenzen zurückgeschickt werden. Während ein Sprecher des österreichischen Innenministeriums eine missverständliche Kommunikation der Neuregelung auf deutscher Seite als Ursache der steigenden Flüchtlingszahlen bezeichnete, wies Angela Merkel dies am Dienstag zurück.

Deutschland trage für diese Entwicklung keine Mitverantwortung, sagte die Kanzlerin nach einem Treffen mit dem spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy in Berlin. Zwar erhielten syrische Flüchtlinge in Deutschland „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ einen Asylstatus oder würden als Bürgerkriegsflüchtlinge anerkannt, sagte die Kanzlerin. Merkel wies aber darauf hin, dass dennoch das „Dublin“- Verfahren weiter gelte.

Welche Kosten kommen auf Deutschland zu?

Der Bund wird in den kommenden Jahren für Sozialleistungen und die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt Milliardenbeträge aufbringen müssen. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) rechnet damit, dass im kommenden Jahr zwischen 1,8 und 3,3 Milliarden Euro zusätzlich notwendig sind. Bis 2019 würden die Mehrkosten auf geschätzt sieben Milliarden Euro steigen. Nach einer gewissen Zeit haben Asylbewerber Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen, etwa wenn sie keinen Job finden. Nahles erwartet, dass die Zahl der Hartz-IV-Berechtigten im kommenden Jahr um 240 000 bis 460 000 steigen wird. Bis 2019 könne die Zahl der zusätzlichen Bezieher um eine Millionen steigen, sagte sie.

Mehr Geld ist außerdem nach den Worten von Nahles für Sprachkurse notwendig, sowie für die Qualifizierung und Vermittlung von Flüchtlingen. Über den Finanzrahmen sei noch nicht entschieden worden, sagte die Ministerin unter Verweis auf die bevorstehenden Haushaltsverhandlungen. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sei aber angesichts ihrer Prognosen „nicht aus allen Wolken gefallen“. Trotzdem ist fraglich, ob der Bund wie geplant die schwarze Null im kommenden Jahr halten kann.

Exakte Prognosen sind nach Angaben der Arbeitsministerin momentan allerdings schwierig: Wie hoch die Mehrausgaben ausfallen, hängt davon ab, wie viele Flüchtlinge in Deutschland tatsächlich einen Asylantrag stellen, wie viele von ihnen anerkannt werden, ob Familienmitglieder nachziehen – und nicht zuletzt davon, ob und wie schnell eine Vermittlung in den Arbeitsmarkt gelingt. Außerdem ist entscheidend, wie hoch die künftigen Hilfen an Länder und Kommunen ausfallen.

Der Bund hat zugesagt, sich über die eine Milliarde Euro in diesem Jahr ab 2016 „dauerhaft, strukturell und dynamisch“ an den Flüchtlingskosten zu beteiligen. Am Sonntagabend wird sich der Koalitionsausschuss mit dem Thema befassen. Am Mittwoch kommender Woche treffen sich die Ministerpräsidenten. Wie es heißt, sollen bis zum Flüchtlingsgipfel am 24. September möglichst viele Punkte geklärt sein.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false