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Abmarsch: Nach Auseinandersetzungen mit den Demonstranten zogen sich die Sicherheitskräfte wieder zurück.

© AFP

Update

Europa und die Ukraine: Sicherheitskräfte in Kiew ziehen sich zurück

Kippt die Lage in der ukrainischen Hauptstadt Kiew? Bei den Protesten hat es Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten gegeben. Mehrere Menschen wurden verletzt. Zugleich ist die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton in Kiew, um zu vermitteln. Schon bei ihrer Ankunft erlebte sie eine unangenehme Überraschung.

Bei den Protesten in der ukrainischen Hauptstadt Kiew hat es am Morgen gewaltsame Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und prowestlichen Demonstranten gegeben. Vor dem Rathaus setzten hunderte Sicherheitskräfte Schlagstöcke gegen Protestierende ein, die sich vor dem Gebäude mit Knüppeln und aus dem seit Sonntag besetzten Rathaus heraus mit Feuerlöschspritzen wehrten, wie ein Korrespondent der Nachrichtenagentur AFP aus dem Zentrum Kiews berichtete. Bereitschaftspolizisten stürmten außerdem nach Berichten der Agentur Reuters am Mittwochmorgen das von Demonstranten besetzte Rathaus. Sie seien in das Gebäude eingedrungen, sagten Teilnehmer der Protestaktion. Auf Fernsehbildern war zu sehen, dass die Besetzer die Polizisten anscheinend mit Wasserschläuchen bespritzten.

Die Polizei sprach von zehn Verletzten in den eigenen Reihen sowie von mehreren Festnahmen. Rasch bekamen die Protestierenden nach dem Polizeieinsatz wieder neuen Zulauf, einer Schätzung der Nachrichtenagentur AFP zufolge wuchs ihre Zahl binnen Stunden wieder auf mehr als 10.000 am frühen Morgen an.

Welches Ziel der Machtapparat des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch mit dem neuerlichen nächtlichen Sturm verfolgte, ist unklar. Laut ukrainischen Presseberichten hatte Russlands Präsident Wladimir Putin bei dem letzten Treffen in Sotschi von Janukowitsch die Wiederherstellung der Ordnung im Lande gefordert – und ihm dafür große Preisnachlässe bei den Erdgaslieferungen versprochen.

Nach internationaler Kritik am Vorrücken der Sicherheitskräfte gegen die prowestliche Opposition zog die Führung einige Sondereinheiten teilweise wieder zurück. An dem von Regierungsgegnern besetzten Bürgermeisteramt in Kiew stiegen Uniformierte wieder in ihre Busse. Es werde keine Gewalt gegen friedliche Demonstranten geben, sagte Regierungschef Nikolai Asarow am Mittwoch. Die Polizei habe lediglich Wege von Barrikaden freigeräumt. Innenminister Witali Sachartschenko sagte einer Mitteilung zufolge, dass es keine Erstürmung des Platzes der Unabhängigkeit geben werde. "Ich möchte alle beruhigen - der Maidan wird nicht erstürmt", sagte er.

Spezialeinheiten waren in der Nacht auf den Unabhängigkeitsplatz vorgerückt. Offenbar fährt der ukrainische Staatspräsident zwei Strategien zur gleichen Zeit. Während am Dienstag weitere Sondereinheiten in die ukrainische Hauptstadt Kiew verlegt wurden, berief Janukowitsch einen "Runden Tisch" für den heutigen Mittwoch ein. "Alle interessierten Kräfte" könnten daran teilnehmen, sagte Ex-Staatspräsident Leonid Krawtschuk, der als Initiator gilt.

Gibt es Bewegung in der ukrainischen Politik?

Als Geste der Versöhnung kündigte Janukowitsch die Freilassung eines Teils der Verhafteten an. "Wie viele es sein werden, weiß ich nicht", sagte der Präsident, „aber bestimmt kommen jene frei, die kleine Kinder zuhause haben", erklärte er im ukrainischen Staatsfernsehen.

Zuvor traf sich Janukowitsch kurz mit seinen drei Amtsvorgängern Krawtschuk, Leonid Kutschma und Viktor Juschtschenko. Diese hatten sich bereits vorige Woche öffentlich mit den Protestierenden solidarisiert. Krawtschuk, der die Ukraine 1991 in die Unabhängigkeit geführt hatte, hat gemäß ukrainischen Medienberichten die Einsetzung eines Expertenkabinetts vorgeschlagen. Über die Ergebnisse der Gespräche mit Janukowitsch wurde zunächst nichts bekannt. Janukowitsch sagte danach nur, eine Blockade der Regierungsgebäude würde in keinem Land der Welt geduldet. Wenn dies mit dem Weißen Haus geschehen würde, wäre die Polizei sofort zur Stelle.

Die oppositionelle "Allianz des Nationalen Widerstands" hatte zuvor erklärt, sie sei zu dem Treffen nicht eingeladen worden. Die Führer der drei Oppositionsparteien Batkiwtschina (Vaterland), Udar (Schlag) und Swoboda (Freiheit) – Arsenij Jatsenijuk, Witalij Klitschko und Oleh Tjanibok – betonten, sie würden sich erst mit Janukowitsch an einen gemeinsamen Tisch setzen, wenn ihre Vorbedingungen erfüllt seien. Dazu zählen neben dem Rücktritt der Regierung von Premier Mykola Asarow die Freilassung der am 1. Dezember nach nächtlichen Straßenschlachten beim Präsidentenpalast festgenommenen Demonstranten und die Bestrafung der Verantwortlichen für den Angriff auf den Maidan. Am 1. Dezember waren über 50 friedlich demonstrierende Jugendliche von den gefürchteten "Berkut"-Sondereinheiten krankenhausreif geschlagen worden.

Wie verhält sich die Europäische Union?

Die westliche Diplomatie gibt sich große Mühe. Am Dienstag flog die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland in die ukrainische Hauptstadt und traf sich mit den drei Oppositionsführern. "Die USA und die EU erwarten eine friedliche Lösung des Konfliktes in der Ukraine", sagte Nuland anschließend.

Catherine Ashton, EU-Außenbeauftragte, brach ebenfalls am Dienstag zu einer Vermittlungsmission in Kiew auf. Im Laufe ihres zweitägigen Besuchs will sie alle wichtigen Beteiligten auf Seiten der Regierung und der Opposition sowie Vertreter der Zivilgesellschaft treffen. Bei ihrer Ankunft erlebte Ashton eine unangenehme Überraschung. Vor der Kiewer EU-Botschaft, ihrer ersten Anlaufstelle, hatte sich eine große Gruppe kahlgeschorener Schlägertypen versammelt. Die sogenannten "Tituschki", vom Staatsapparat bezahlte Vorstadt-Hooligans mit besten Kontakten in den Sicherheitsapparaten, hielten Transparente mit Slogans wie "Demokratie = Recht und Ordnung" in die Höhe und blockierten den Eingang zur EU-Botschaft. Dem aggressiven Treiben sahen tatenlos drei ukrainische Polizisten zu.

Außenminister Guido Westerwelle warnte die Regierung in der Ukraine davor, die Proteste in Kiew gewaltsam niederzuschlagen. "In einer Demokratie lassen sich friedliche Demonstrationen der Menschen nicht einfach verbieten und mit Staatsgewalt unterbinden", erklärte Westerwelle am Mittwoch in Berlin. "Die Proteste sind lebendiger Ausdruck des Wunsches der Menschen nach einer europäischen Ukraine." Statt den Maidan in Kiew zu räumen und Proteste zu verbieten, müsse jetzt ein wirklicher politischer Dialog beginnen. "Dass die Europäische Union und der Europarat bereit sind, dabei zu helfen, ist auch in Kiew bekannt", sagte Westerwelle. Auch das polnische Außenministerium verurteilte die Gewalt gegen die Demonstranten scharf. "Wir bekunden unsere Solidarität mit der friedlich im Namen europäischer Werte demonstrierenden Gesellschaft", hieß es in der in Warschau veröffentlichten Erklärung. Polen sei "tief beunruhigt" über die Verschärfung der Lage in seinem Nachbarland.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Elmar Brok (CDU), erhob schwere Vorwürfe gegen Russland. Auf Druck Moskaus werde das ukrainische Volk unterdrückt, sagte er. "Der Eiserne Vorgang geht wieder runter", warnte Brok.

Ashton ist Vermittlerin und Interessensvertreterin in einem

Welche Interessen gibt es auf europäischer Seite?

Die Rolle der Europäischen Union ist gespalten. Auf der einen Seite will Ashton als Vermittlerin auftreten und ist doch auf der anderen Seite selbst Partei. Denn eigentlich sollte ein europäisch-ukrainisches Assoziierungsabkommen den Ost-Gipfel Ende November in Vilnius krönen. Doch die Annäherung der Ukraine an Europa scheiterte - die ukrainische Regierung unterzeichnete den Vertrag nicht und wandte sich stattdessen Russland zu. Daran entzündeten sich dann die Proteste der ukrainischen Pro-Europa-Bewegung. Bei der Plenardebatte des Europäischen Parlaments in Straßburg hagelte es daher am Dienstag auch Kritik am eigenen Vorgehen. Der Gipfel sei ein "erniedrigendes Scheitern", eine schlimme Niederlage, ein Fehlschlag gewesen, schimpften die Redner.

Zahlreiche Abgeordnete kritisierten, man hätte im vorhinein Russland stärker einbeziehen sollen, indirekt habe das Land doch die ganze Zeit mit am Tisch gesessen. Das Verhalten sei "naiv" gewesen und nun habe man sich "lächerlich gemacht". Andere Politiker, wie die deutsche Grünen-Abgeordnete Rebecca Harms forderten Ashton nun auf, klare Worte zur Situation in der Ukraine zu finden. "Die Menschen in der Ukraine glauben an Europa und die Freiheit", sagte Harms, die eine ukrainische Flagge über den Schultern trug, "wir müssen das Gegenüber für diese neue Opposition sein."

Die Ukraine fordert 20 Milliarden Euro Finanzhilfe von der Europäischen Union für den Abschluss des ausgehandelten Abkommens über engere Zusammenarbeit und freien Handel. "Wir wollen Bedingungen schaffen, um die Verluste für die ukrainische Wirtschaft zu verringern", sagte Ministerpräsident Asarow. "Wir schlagen vor, diese Frage über die Zuweisung finanzieller Hilfe zu lösen", betonte der Regierungschef. Die Ukraine hatte vor großen Problemen etwa für den wichtigen Agrarsektor gewarnt, falls Unternehmen aus der EU freien Marktzugang erhielten.

Wie könnte eine Lösung des Konflikts aussehen?

Optimisten in Brüssel hoffen, Ashton könne eine Kompromisslösung in Kiew vorbereiten. Zum Beispiel ein Kabinett der nationalen Einheit, dem der ukrainischen Schokoladenbaron Petro Poroschenko vorsitzen könnte. Der Geschäftsmann hatte 2004 die "orange Revolution" unterstützt und ihr zuletzt als Außenminister gedient. Nach Janukowitschs Wahlsieg Anfang 2010 war er Handelsminister, wurde Ende 2012 jedoch entlassen. Poroschenko hatte sich am 1. Dezember beim Präsidentenpalast zwischen die Fronten gestellt und versucht zu vermitteln. Er verfügt über beste Kontakte in beide Lagern – Regierung wie Opposition. Aufgrund seiner großen politischen Erfahrung wäre er wesentlich besser als Übergangspräsident geeignet als Witalij Klitschko. Der ist seit seinen Auftritten als scharfer Oppositionspolitiker im Parlament und später auf dem Kiewer Maidan für Janukowitsch kaum ein akzeptabler Kandidat.

Überhaupt ist fraglich, inwieweit Janukowitsch an einem wirklichen Kompromiss interessiert ist. Zugeständnisse wie die Entlassung einiger wohl ohnehin unschuldiger Untersuchungshäftlinge kosten ihn wenig. Ein Austausch der Regierungsmannschaft, die es seinem Familienclan erlaubte, sich innerhalb von nur drei Jahren maßlos zu bereichern, wäre allerdings ein hoher Preis. Dazu kommt, dass die EU schon einmal – vor Vilnius – die Rechnung ohne den Kreml gemacht hat. Putin hat Janukowitsch mit Krediten und billigem Gas gelockt. Janukowitsch dürfte deshalb eher versucht sein, die Proteste irgendwie bis zu den Weihnacht- und Neujahrsfeiern auszusitzen. Da dürfte es ruhiger werden. (mit dpa)

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