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Thorbjörn Jagland ist seit 2009 Generalsekretär des Europarates und Chef des Nobelpreiskomitees aus Norwegen.

© Thilo Rückeis/Tsp

Europarats-Chef Jagland: „Im Kampf gegen Terror sind Menschenrechte kein Hindernis“

Der Generalsekretär des Europarats, Thorbjørn Jagland, spricht im Interview über Theresa Mays Brexit-Pläne, das Vorgehen gegen Fake News und das Schicksal der Gefangenen in der Türkei.

Der Europarat gilt als Hüter von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wenn man die Entwicklungen in Mitgliedstaaten wie der Türkei, Russland oder Ungarn sowie die Erfolge rechtspopulistischer Parteien in Europa betrachtet: Erleben wir derzeit eine Gegenbewegung?

Es gibt beunruhigende Zeichen in manchen Ländern. Natürlich haben wir in der Türkei, Russland und Ungarn massive Probleme. Aber wir sollten auch das Positive sehen: In Deutschland ist die Partei, die uns große Sorgen gemacht hat, im Niedergang.

Sie meinen die AfD?

Ja. Die Aussage der AfD, der Islam gehöre nicht zu Deutschland – und damit auch nicht zu Europa –, war völlig inakzeptabel. Die Religionsfreiheit ist ein Grundpfeiler der Europäischen Menschenrechtskonvention. In den Niederlanden hatte der Rechtspopulist Geert Wilders nicht viel Erfolg, und ähnlich ging es der Ukip in Großbritannien. Beunruhigend ist allerdings, dass auch große Parteien die Autorität des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte infrage stellen. Seit langer Zeit gibt es in Großbritannien eine Debatte über die Rolle der Menschenrechtskonvention, der Anstoß dazu ging von den regierenden Konservativen aus.

Premierministerin Theresa May hat angekündigt, die Menschenrechte einzuschränken, falls sie dem Kampf gegen den Terror im Weg stehen. Wie bewerten Sie das?

Wenn Großbritannien von einem bestimmten Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention abweichen will, müsste dafür zunächst der Notstand erklärt werden. Anders geht es nicht. Außerdem darf ein Land das nicht auf Dauer tun, es gibt zeitliche Beschränkungen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat dem Europarat gerade mitgeteilt, dass er den Notstand in Frankreich aufheben will. Das begrüßen wir.

Aber welche Bedeutung hat es, wenn die Regierungschefin einer traditionsreichen westlichen Demokratie die Menschenrechte notfalls einschränken will?

Wenn Großbritannien die Menschenrechte tatsächlich einschränkt, werden andere Staaten dasselbe tun. Das wäre der Anfang vom Ende des gesamten Systems zum Schutz der Menschenrechte in Europa. Deshalb ist es sehr wichtig, deutlich zu machen, wo hier die Grenzen sind. Menschenrechte sind gerade kein Hindernis im Kampf gegen den Terror. Man kann den Terrorismus nicht mit undemokratischen Mitteln bekämpfen. Zudem gibt es in Europa längst starke rechtliche Instrumente für den Anti-Terror-Kampf.

Die Bundesregierung will soziale Netzwerke gesetzlich verpflichten, gegen „Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte“ vorzugehen und entsprechende Beiträge zu löschen. Die Rede ist dabei auch von „strafbaren Falschnachrichten“. Wie bewerten Sie das deutsche Vorhaben?

Natürlich ist Hassrede im Netz gefährlich und muss bekämpft werden. Und auch Fake News können letztlich zu Menschenrechtsverletzungen führen, wenn es dadurch zum Beispiel zu gewaltsamen Übergriffen auf Migranten kommt. Dennoch gilt: Bei staatlichen Maßnahmen gegen Falschnachrichten besteht die Gefahr, in den Bereich der Zensur zu kommen. Für andere Staaten, die sich nicht so gewissenhaft an die Meinungsfreiheit halten wie Deutschland, wäre dies das falsche Signal. Schließlich gibt es in den Staaten des Europarates bereits Gesetze, die die Anstiftung zur Gewalt, offenen Rassismus und Leugnung des Holocausts untersagen. Wenn solche Äußerungen in sozialen Medien auftauchen, können Strafverfolgungsbehörden bereits jetzt tätig werden.

Das heißt, die bestehenden Gesetze reichen?

Generell ja. Auf Druck der Bundesregierung, der EU und des Europarates haben die Internetfirmen reagiert und begonnen, Falschnachrichten zu kennzeichnen und rechtswidrige Hassrede zu löschen. Aber es wäre falsch, die gesamte Verantwortung privaten Unternehmen zu überlassen.

Dem Europarat gehört auch die Türkei an. Der Journalist Deniz Yücel ist bereits seit 125 Tagen hinter Gittern. Damit ist er einer von Tausenden Journalisten, Regierungsbeamten und Soldaten, die seit dem Putschversuch 2016 in der Türkei festgenommen worden sind. Wie bewerten Sie das Vorgehen der Regierung in Ankara?

Die Entwicklungen in der Türkei sind sehr besorgniserregend. In dieser Situation sind die rechtlichen Instrumente, die wir in Europa haben, von entscheidender Bedeutung. Die meisten Journalisten, die in der Türkei im Gefängnis sind, haben sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt, eine Haftbeschwerde eingereicht und beanstandet, dass es keine Überprüfung der Untersuchungshaft gab. Das Gericht in Straßburg wird sich sehr bald mit diesen Fällen befassen. Für diejenigen, die in der Türkei im Gefängnis sitzen, ist der Gerichtshof der letzte Ausweg. Er hat in der Vergangenheit vielen Menschen in der Türkei geholfen. Auch der bekannte Journalist Can Dündar kam frei, weil das türkische Verfassungsgericht sich auf die Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Straßburger Gerichts bezogen hat. Wir müssen nun sehen, ob die Urteile aus Straßburg in der neuen Situation in der Türkei umgesetzt werden. Vor dem Putschversuch wurden die Urteile umgesetzt.

Haben Vertreter der Regierung in Ankara Ihnen bei Ihrem Besuch in der Türkei zugesichert, die künftigen Urteile des Gerichtshofes für Menschenrechte umzusetzen?

Sie haben nicht das Gegenteil gesagt. In Ankara weiß man auch, dass es nicht gut für die Türkei wäre, wenn das Land tausende Verurteilungen vom höchsten Gericht in Europa bekäme.

Wenn die Türkei die Todesstrafe wieder einführt, kann das Land dann Mitglied des Europarates bleiben?

Die Einführung der Todesstrafe ist natürlich die rote Linie. Es gibt bestimmte Artikel in der Europäischen Menschenrechtskonvention, von denen niemals abgewichen werden darf, nicht einmal in Zeiten des Notstandes. Dazu gehören das Verbot der Todesstrafe und der Folter. Wenn ein Land die Todesstrafe einführt, kann es kein Mitglied des Europarates sein.

Russland hat kürzlich angekündigt, seine Zahlungen an den Europarat zu kürzen. Was bedeutet das für die Organisation?

Wir haben darüber keine offizielle Mitteilung erhalten. Möglicherweise war das eine Falschnachricht, das werden wir sehen. Man kann die Zahlungen auch nicht einfach kürzen. Dass Russland einer der großen Beitragszahler ist, steht im Beitrittsvertrag des Landes zum Europarat.

Nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates der russischen Delegation das Stimmrecht entzogen. Seitdem blieben russische Abgeordnete den Plenarsitzungen fern. Versucht Moskau mit der Ankündigung, die Mittel zu kürzen, nun Druck auf den Europarat auszuüben?

Ich denke nicht, dass das funktionieren wird. Niemand wird finanziellem Druck nachgeben. Aber ich hoffe, dass wir eine Lösung finden werden, um die Krise zu beenden. Wir brauchen den gegenseitigen Austausch.

Im Krieg in der Ostukraine unterstützt Russland die Separatisten mit Kämpfern, Waffen und Geld. Was kann der Europarat dort und auf der Krim tun?

Wir haben eine sehr deutliche Position zu den Ereignissen in der Ukraine. Die Annexion der Krim war ein Verstoß gegen internationales Recht. Nach wie vor stehen auch diejenigen, die auf der Krim leben, unter dem Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention. Sie können sich an das Gericht in Straßburg wenden. Deshalb sollte der Europarat auf der Krim präsent sein, um sich um die Rechte der Menschen zu kümmern. Ich tue alles, was ich kann, um ein Monitoring auf der Krim zu ermöglichen.

Heißt das, der Europarat könnte Experten zur Bewertung der Menschenrechtslage auf die Krim schicken?

Daran arbeite ich. Unsere Beobachter sollten dort ungeachtet der Statusfrage tätig sein können.

Wie reagieren die Ukraine und Russland?

Es gibt gewisse Probleme praktischer und rechtlicher Art. Die Ukraine will verständlicherweise vermeiden, dass durch künftige Reisen von Europarats-Experten auf die Krim der Eindruck entsteht, wir würden die Annexion quasi anerkennen. Aber wir werden sicherlich eine Lösung finden. Letztlich sollten wir an die Menschen auf der Krim denken. Es ist inakzeptabel, dass der Europarat Teil eines großen geopolitischen Spiels wird. Wir müssen überall unseren Job machen dürfen. Schließlich sind wir eine Art Rotes Kreuz für Menschenrechte. Es darf keine weißen Flecken auf unserer Karte geben.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates wurde gerade durch einen Korruptionsskandal erschüttert. Ein früherer italienischer Abgeordneter erhielt einen Millionenbetrag aus Aserbaidschan, Staatsanwälte sehen einen Zusammenhang zu seiner Tätigkeit im Europarat. Die Versammlung will die Vorgänge nun von drei Richtern untersuchen lassen. Haben der Skandal und dessen zunächst schleppende Aufarbeitung den Ruf der Versammlung und des Europarates beschädigt?

Vorübergehend schon, würde ich sagen. Für die Untersuchung wurden aber drei sehr angesehene Richter ausgewählt. Wir müssen nun die Ergebnisse abwarten. Die Parlamentarische Versammlung will zudem ihre eigenen Regeln überarbeiten. Das wird das Ganze wieder auf Kurs bringen.

Zum einen gibt es den Korruptionsskandal, zum anderen einen Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung, der auf Einladung von russischen Abgeordneten nach Syrien fuhr und sich mit Staatschef Baschar al Assad fotografieren ließ: Es scheint, als hätten autoritäre Regime den Eindruck, sie könnten Einfluss im Europarat kaufen.

Zunächst einmal sollten wir nicht vergessen, dass der Europarat viel mehr ist als die Parlamentarische Versammlung. Er ist eine Organisation, in der die Regierungen zusammenarbeiten und die über sehr angesehene Institutionen verfügt: die Monitoring-Gremien, die Venedig-Kommission und allen voran den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ich habe bisher nicht gesehen, dass jemand die Autorität dieses Systems infrage gestellt hätte. Die Parlamentarische Versammlung spielt eine bedeutende Rolle. Aber letztlich sind Entscheidungen Sache der Regierungen. Jetzt ist es sehr wichtig, Klarheit darüber zu bekommen, was in der Parlamentarischen Versammlung passiert ist, und sicherzustellen, dass niemand die Versammlung in unangemessener Weise beeinflussen kann.

Haben westliche Staaten und ihre Abgeordneten dem Europarat zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, weil sie die Rechte, die die Organisation verteidigt, als selbstverständlich betrachten?

Aus westlicher Perspektive mag das so sein. Die Bedeutung der Menschenrechtskonvention und besonders des Gerichts in Straßburg wird in einigen Ländern, beispielsweise der Türkei, viel höher eingeschätzt. Für deren Bürger ist das Gericht die letzte Hoffnung. Wenn Russland aus dem Europarat ausgeschlossen würde oder austräte, wären 130 Millionen Menschen des Rechtes beraubt, vor das höchste internationale Gericht zu gehen. Falls die „alten Demokratien“ die Menschenrechtskonvention als Wertebasis der europäischen Integration infrage stellen, würde das die antieuropäischen Fliehkräfte auf unserem Kontinent stärken – sowohl innerhalb der EU als auch in ihrer Nachbarschaft.

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