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Jean-Claude Juncker

© Reuters

Europawahl: Jean-Claude Juncker - Brückenbauer und Konsensmann

Kaum einer hat so viel Erfahrung mit dem Versuch, den Kontinent zu einen, wie der konservative Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker. Auf dem Weg in die Zukunft könnte das sein Problem sein.

Der Kaffee wird kalt, aber Jean-Claude Juncker rührt die Tasse auf dem Podiumstisch nicht an. Dabei hat er sich den Muntermacher extra bringen lassen vor dem Auftritt im Europäisch-Amerikanischen Presseclub in Paris. Wahrscheinlich könnte er ihn sogar brauchen. Spitzenkandidat der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) für die Europawahl zu sein ist dieser Tage ein aufreibender Job. Aber die Fotografen um ihn herum schießen immer weiter, als ob die Menschheit den Luxemburger noch nie im Bild gesehen hätte.

Kampf gegen ein Paradox

Um Junckers Lippen spielt der Hauch eines verwunderten Lächelns. Sollen sie machen. Nur, ein Bild mit kaltem Kaffee in der Hand – nein, das kriegen sie nicht. Es wäre zu symbolträchtig für das Paradox, gegen das Jean-Claude Juncker in diesen Tagen anzukämpfen hat. Keiner von denen, die in Sachen Europa derzeit unterwegs sind, hat so viel erlebt, erlitten und erfahren mit dem Versuch, den Kontinent zu diesem Etwas namens Europäische Union zu vereinen. Der Vertrag von Maastricht trägt seine Unterschrift – da tastete sich Angela Merkel als Frauenministerin und „Kohls Mädchen“ gerade an die neue West-Heimat heran. Zuletzt war er als Euro-Gruppenchef zeitweise in jeder zweiten „Tagesschau“. Doch ausgerechnet die Erfahrung ist jetzt sein Problem: Kann ein solches Urgestein als Komissionspräsident ins Eurokraten-Brüssel neue Bewegung bringen?

Juncker hat sich das eine Weile auch gefragt und dann entschieden: Ja. Zeit hat er, seit ihn eine milde kuriose Geheimdienstaffäre den Dauerjob als Regierungschef kostete. Jetzt reist er quer durch den Kontinent, mehr als zweihundert Debatten, Konferenzen und Interviews, zwanzig Länder allein in den letzten drei Wochen. Das geht so weiter bis zum Wahltag: Lissabon, Porto, Athen.

Immigration als Drama

Er hätte den Kaffee also brauchen können. Zumal die Atmosphäre einer Pressebegegnung im gediegenen Konferenzsaal einer großen Pariser Anwaltskanzlei das Ihre dazu beiträgt, den einleitenden Vortrag des Routiniers wie eine Pflichtübung wirken zu lassen. Die Sanierung der Staatsfinanzen in Europa sei kein Selbstzweck, sagt Juncker, aber es sei verantwortungslos, den nachfolgenden Generationen eine wachsende Schuldenlast aufzubürden. Die Immigration nennt er ein Drama, das mehr Solidarität zwischen den EU-Mitgliedern verlange. Am ungehinderten Reiseverkehr in der Union, der wegen der Zuwanderung von Armutsflüchtlingen von populistischen Parteien infrage gestellt wird, müsse festgehalten werden. Das Schengener Abkommen funktioniere. Auch das geplante Freihandelsabkommen mit den USA verteidigt er; aber natürlich dürfe die EU nicht ihre Standards etwa bei Verbraucherschutz oder Datensicherheit preisgeben.

Ohne Sprechzettel

Neu ist das nicht, revolutionär erst recht nicht. Juncker braucht keinen Sprechzettel mehr. Er findet für dieses, für sein Europa auch so meist das richtige Wort. Das hat ihn zu einem der beliebtesten Europäer gemacht, einem „biologischen Europäer“ sozusagen, wie das französische Magazin „Le Point“ ihn nannte. Er empfindet das als Kompliment und Auftrag.

Der Auftrag hat mit seiner Herkunft zu tun aus dem kleinen Großherzogtum im Zentrum des Kontinents. Wer da Politik machen will, wird zwangsläufig zum Grenzgänger zwischen Frankreich und Deutschland. Wer in eine historische Umbruchphase wie den Fall der Mauer gerät, kann, wenn er es gut macht, dabei zum Brückenbauer werden. Juncker machte es gut. Er studierte in Straßburg Jura, wurde 1984 Finanzminister und 1995 Premierminister. Wenn es kriselte im deutsch-französischen Zusammenspiel, war seine diskrete Vermittlung gefragt. Helmut Kohl nannte ihn „Junior“. Der deutsche Kanzler schlug ihn 1994 zum Präsidenten der EU-Kommission vor. Juncker lehnte ab, genau wie 2004, als Jacques Chirac und Gerhard Schröder ihn erneut drängten.

Gegen Neo-Nationalismus

Und warum jetzt doch, ausgerechnet? Juncker dreht einen Bleistift zwischen den Fingern. „Wir müssen dafür kämpfen, die Re-Nationalisierung der europäischen Politiken rückgängig zu machen und die Integration voranzubringen“, sagt er. Dieser ganze Neo-Nationalismus, der ist ihm zuwider. Er kennt die Auswüchse; seinen Vater hatten die Nazis als Soldaten zwangsrekrutiert. Ein ehrbares Motiv, das durch die Ukraine-Krise zu ganz neuer Aktualität gefunden hat. Doch macht es ihn zum Mister Europa des 21. Jahrhunderts?

Es macht ihn immerhin zu einem Kandidaten, der so ernst zu nehmen ist, dass im vergangenen Jahr Gerüchte über menschliche Schwächen des „Kettenrauchers und Vieltrinkers“ auftauchten, wie ihn der niederländische Finanzminister Jeroen Dijesselbloem unverblümt nannte. Juncker verwahrte sich, aber es blieb eben doch etwas hängen. Übler noch war ein Verdikt wie das des französischen Zentrumspolitikers und früheren EU-Abgeordneten Jean-Louis Bourlanger: Juncker sei unbestreitbar brillant, „aber die Union braucht frisches Blut“.

Merkel ist sein Problem

Aus dem Mund eines Freundes war das ein Tiefschlag. Juncker ist mit seinen 59 Jahren gerade mal ein Jahr älter als der sozialdemokratische Konkurrent Martin Schulz. Und der ist auch schon ewig dabei. Der gleichen Meinung sind sie ebenfalls fast immer. Aus einem Fernsehduell wurde nichts, was einem Zweikampf ähnlich sah. Schulz ist ohnehin nicht sein Problem. Sein Problem stammt aus dem schönen Lissabon, und dessen aktuelle Verkörperung sitzt in Berlin.

Angela Merkels Bekenntnisse zum Kandidaten Juncker sind nicht so, wie man sich das von der stärksten Frau Europas zum Spitzenbewerber ihrer europäischen Parteienfamilie erwarten sollte. Wo die SPD-Spitze ihren Mann überall als künftigen Präsidenten anpreist, zögert die CDU-Chefin. Sie sagt nicht Nein, aber auch nicht richtig deutlich Ja. Das hat schon zu Mutmaßungen geführt, Merkel wolle an der Kommissionsspitze keinen wie Juncker, der ihr an Erfahrung, Sitzfleisch, Witz und List ebenbürtig wäre – sondern wieder einen Blassen wie den Portugiesen José Manuel Barroso, den sie einst ins Amt hievte.

Gibt es einen Amtsautomatismus?

Da ist auch etwas dran; aber wie so oft in Europa ist die Lage komplizierter. Der Vertrag von Lissabon bestimmt, dass die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Kandidatenvorschlag das Ergebnis der Europawahl „berücksichtigen“ sollen. Was das heißt, steht da nicht. Die Deutungen reichen von Automatismus (derzeitige SPD-Version) bis „Das heißt gar nichts.“ In den meisten EU-Staaten gilt wahrscheinlich die zweite Lesart. Das Rennen Juncker – Schulz bleibt eine ziemlich deutsche Inszenierung, und selbst hier ein Ding für politische Eliten. Eine Woche vor dem Wahltag kennt immer noch jeder fünfte Deutsche die Herren nicht. In einem Land wie Großbritannien, sagt ein Gewährsmann von der Insel, sind sie selbst den Interessierten vollkommen egal: „Feind oder Feind – was soll das für eine Alternative sein?“

Merkel weiß um diese Lage. Sie weiß auch, dass der künftige Präsident für die Absegnung durch das EU-Parlament nach menschlichem Ermessen eine große Koalition braucht. Es wäre nicht das erste Mal, dass so eine Konstellation sich nur auf einen Dritten einigen kann, besonders wenn das Rennen wie zu erwarten knapp ausgeht.

Handfeste taktische Gründe

Aber es gibt für die deutsche Kanzlerin auch handfeste taktische Gründe, sich nicht auf ihren Parteifamilienfreund festzulegen. Da wird ja demnächst nicht nur ein Kommissionspräsident bestimmt, sondern eine ganze Kommission plus ein paar weitere Top-Posten wie der Ratschef und der oberste Außenpolitiker der EU. Merkel hat Übung mit Paketdeals. Eine Vorabfestlegung wird der Chefin des größten EU-Landes von den kleineren gerne als Versuch der Dominanz in Rechnung gestellt. Sie legt Wert auf Ellenbogenfreiheit. Intern, hat Juncker neulich gesagt, habe sie ihm den Präsidentenposten aber zugesichert, wenn er die Wahl gewinnt.

Und, wie ist also nun das Verhältnis der Kanzlerin zu ihm? „Ich bin nicht Frau Merkels Sprecher“, raunzt Juncker in Paris. Er ist jetzt zu Form aufgelaufen, auch ohne Kaffee. Dann kann er witzig sein, ironisch, sarkastisch, angriffslustig. Schulz hat ihm neulich vorgehalten, dass sich der Christdemokrat alle fünf Wahljahre zum Sozialdemokraten wandele. Auf Solidarität, gibt Juncker zurück, gebe es kein sozialistisches Monopol. Und überhaupt, was solle denn falsch sein an einem „sozialdemokratischsten unter den Christdemokraten“? Sogar auf die Ferne wird da kein Duell mehr draus. Oder, mit Junckers Schlusswort: „Ich bin ein Mann des Konsens.“

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