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Europawahl: „Zusammen kann man mehr“

Die einen hatten Riesenangst und sagten Nein. Die anderen Riesenhoffnungen und sagten Ja. Zwei Dörfer in Polen, zwei Gegensätze. So war das 2003 bei der EU-Abstimmung. Sechs Jahre später sind die diametralen Unterschiede verwischt. Wie das Vereinte Europa das Denken, den Alltag und das Geld im Portemonnaie verändert

Sie haben schon wieder einen Rekord aufgestellt. Diesmal im Beantragen von Subventionen. Und dabei standen sie dem Ganzen noch vor einiger Zeit sehr ablehnend gegenüber, waren ausgerechnet auch darin Rekordhalter: im Nein-Sagen. Zu jenem Staatenbund, von dem sie annahmen, er sei vor allem eine Maschine, dazu da, diese Subventionen zu verteilen. Zur Europäischen Union.

Und nun das. Mittlerweile beantragen mehr als 99 Prozent der Godziszower Bauern regelmäßig EU-Geld, so viele wie in keiner anderen Gemeinde in der Wojewodschaft Lublin. Es hat ein paar Jahre gedauert, doch nun tun dies auch die Älteren, die lange Zeit Angst davor hatten, als Gegenleistung dafür ihr Land an die EU abgeben zu müssen. So erzählt es ein Behördenmitarbeiter, der den Bauern beim Ausfüllen der Subventionsanträge hilft. Und der Pfarrer sagt, viele Bauern hätten ihn gefragt: „Wie sollen wir denn Geld beantragen, wenn wir damals gegen die EU gewesen sind?“ Er habe dann stets geantwortet: „Polen ist aber nun einmal in der EU, egal, ob ihr damals dafür oder dagegen gewesen seid. Und sie wird auch von polnischem Steuergeld finanziert, also holt euch, was euch zusteht.“

Damals. Als vor sechs Jahren, am 9. Juni 2003 beim Referendum über Polens EU-Beitritt, im ostpolnischen Godziszow 88 Prozent Nein ankreuzten. Nirgendwo in Polen – dem Land, in dem am 4. Juni vor 20 Jahren die ersten freien Wahlen seit Kriegsende abgehalten wurden, das seit fünf Jahren Mitglied der Europäischen Union ist, dessen volljährige Bürger an diesem Sonntag also über das Parlament dieser Union abstimmen – war die Ablehnung größer. Möglicherweise gab es auch nirgendwo im Land so viel Unwissenheit wie hier – 100 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt.

Die Unwissenheit nimmt von Jahr zu Jahr ab. Der Glaube, die EU sei wenig mehr als eine Zahlmaschine, offenbar auch.

Am anderen Ende des Landes, im westpolnischen Gozdnica, gab es diesen Glauben nie. Zumindest nicht bei denen, die die Stadt regieren, den Leuten im Rathaus. Sehr selten nur soll sich die Stadt um EU-Zuschüsse beworben haben. Gozdnica ist also, wenn man so will, der Gegenpart zu Godziszow: Die Stadt war es auch damals im Juni 2003: 95 Prozent der Abstimmungsteilnehmer stimmten für den EU-Beitritt, auch das war polnischer Rekord.

Die Straßen im EU-enthusiastischen Gozdnica sind leer und ruhig. An ihnen stehen verfallene und verfallende Häuser, dazwischen einzelne Farbtupfer: das frisch renovierte Kulturzentrum, eine Kirche, die Feuerwache, das Gemeindeamt und – mintgrün – die Grundschule. Das Geld dafür habe die Schule aus Warschau bekommen, als Anerkennung für das EU-Referendumsergebnis, erzählt man in der Stadt. Ansonsten hat sich im Vergleich zu 2004 – dem Jahr des EU-Beitritts – wenig getan. Doch im Moment ist es anders, sagt der Bürgermeister. Ein Klärwerk wird gebaut, mit Geld aus Europa, sieben Millionen Zloty, fast so viel, wie der Kommune im jährlichen Haushalt zur Verfügung steht. „Und es wird noch besser werden“, sagt er.

Auch im ostpolnischen Godziszow haben sie heute eine renovierte Schule, in Rosa. „Aber alles finanziert aus eigenen Mitteln“, sagt der Schulleiter. Denn die Gelder von der EU sind spärlich geflossen. Immer wieder haben sie Anträge gestellt. Die Straße wollten sie mit EU-Mitteln machen, eine Sporthalle bauen. Alles aber hat die EU auf die Warteliste gesetzt – aus Rache für das Ergebnis des Referendums, dachte der Gemeindevorsteher lange. Doch dann kam ihm die Erkenntnis: Die EU ist eben nicht so reich, dass sie alles sofort bezahlen kann.

„Die EU war für uns eine Chance“, sagt der Bürgermeister des anderen Orts, der von Gozdnica. Er heißt Zdzislaw Plaziak und hat damals mit Ja gestimmt. Es war die Zeit, als Gozdnica dabei war, unterzugehen. 4000 Einwohner, acht Kilometer Luftlinie bis zur deutsch-polnischen Grenze. In Berlin ist man schneller als in Warschau. Ein Rabe ist das Wappenzeichen der Stadt, Schornsteine würden besser passen. Denn sie sind überall. Als Gozdnica noch Freiwaldau hieß, entstand hier die erste Dachziegelfabrik. Die Ziegel aus Freiwaldau steckten im Leipziger Hauptbahnhof und in einer Kirche auf dem Jerusalemer Ölberg. Fast 200 Jahre lang ließ die Baukeramikindustrie die Gemeinde wachsen. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks kamen die Globalisierung und der Abstieg, heute zieht durch die meisten Fabriken nur noch der Wind. „Gozdnica hat eine Rettung gebraucht“, sagt Plaziak.

„Wir nicht“, sagt Andrzej Olech, der Gemeindevorsteher im ostpolnischen Godziszow. Godziszow, ebenfalls 4000 Einwohner, ist Teil der sogenannten „Ostwand“. Das bedeutet: Armut, Rückständigkeit und Provinzialität. Absteigen konnte hier kaum einer mehr. Aber skeptisch sein gegenüber Versprechungen. Menschen, die ganz unten sind, bekommen häufig versprochen, dass es bald aufwärts gehen würde.

Der Pfarrer sagt: „Als unsere Leute aus den Medien ständig mit Hurra-Optimismus über den EU-Beitritt konfrontiert wurden, sind sie eben misstrauisch geworden. Denn ein Bauer weiß, so gut wie das, was da beschrieben wurde, so gut kann es niemals werden.“ Der Pfarrer lebt seit elf Jahren hier, er kennt seine Leute. „Niemand hat sie darüber aufgeklärt, was die Union ist.“

Das ablehnende Referendumsergebnis überraschte deshalb kaum jemanden, auch Bürgermeister Olech nicht, er war nur ein wenig erstaunt über dessen Eindeutigkeit. Schockiert aber war er dann doch, als die Medienberichterstattung über Godziszow losging. „Wir wurden als zurückgeblieben dargestellt, als blöde Bauern, die keine Ahnung haben.“ Olech ist immer noch verärgert.

Damals, beim Referendum, machte es den Anschein, als würde Politik Naturgesetzen unterliegen, physikalischen. Als würde die Anziehungskraft einer politischen Idee schwächer, je weiter man sich von dort entfernt, wo sie praktiziert wird. Stück für Stück, mit jedem Kilometer ostwärts.

Henryk Bres, Bauer und Bienenzüchter aus Godziszow, war einer von den vielen, die 2003 Nein angekreuzt haben. Er ist heute 55, lebt in demselben Haus, in dem seine Familie schon seit Generationen wohnt. Er hat es ausgebaut und neu verputzt, das Auto steht in der Garage, der Traktor vorm Stall, dahinter stehen 130 bunte Bienenstöcke.

„Ich war nicht gegen die EU“, sagt Bres. Die europäische Integration finde er sogar gut. „Zusammen kann man ja mehr.“ Auch hatte er keine Angst vor den strengen EU-Landwirtschaftsstandards. Die habe er längst schon selbst eingeführt. Nein, sagte er deshalb, weil die polnische Regierung seiner Meinung nach schlechte Bedingungen für den Beitritt ausgehandelt hatte, ungerechte. „Zuschüsse bekommen wir nur halb so viele wie die Bauern im Westen. Doch unsere Kosten sind die gleichen.“

Die EU. Die, die das Geld geben. Die Bauern im Westen. Die anderen.

Auf diese Sichtweise, die Reduzierung einer Staatengemeinschaft auf die Rolle des Geldhervorzauberers, stößt man hier immer wieder. Und vielleicht ist das ja noch nicht einmal falsch, schließlich sollen die Lebensverhältnisse in EU-Europa einander angeglichen werden, und das heißt eben für die Reichen: Geld überweisen an die Armen.

„Die Europa-Gegner sind weniger geworden“, sagt Gemeindevorsteher Olech, „aber es sind immer noch mehr als 50 Prozent.“ Immer noch die Mehrheit. Bienenzüchter Bres gehört dazu. „So wie wir in der EU behandelt werden, wie ein armer Verwandter, so gefällt mir das nicht.“ Heute würde er wieder mit Nein votieren.

Man könnte jetzt sagen, dies sei Undank oder Anmaßung, immerhin ist ein halb so großer Zuschuss wie der für einen Bauern im Westen immer noch besser als gar keiner. Aber vielleicht ist es ja so, dass viele Polen mit dem EU-Beitritt ihres Landes einen Bewusstseinswandel durchlebt haben. Man vergleicht sein eigenes Leben nicht mehr mit dem der Eltern oder dem der Leute im armen Nachbarland Ukraine, sondern mit dem im Westen, in der alten EU. Die Ansprüche folgen den Verheißungen, und seien diese Verheißungen auch noch so vage.

Im westpolnischen Gozdnica hat Maciej Rosner Angst vor der EU gehabt. Er war einer der sehr wenigen in seiner Stadt, die Nein gesagt haben. Ein seltener Fall also. Noch seltener ist, dass er es heute zugibt. Der 37-jährige Unternehmer hatte befürchtet, dass Polen in der Union nicht gleichberechtigt behandelt werde, bei Abstimmungen zum Beispiel. „Eine Wissenslücke“, sagt er. Bis 2004 lag Gozdnica am Rand, im Grenzland, und „auf einmal stellte sich heraus, dass wir eine super strategische Lage haben“. Denn die Nähe zu Tschechien und Deutschland hat für ihn einen enormen Vorteil. Die Hälfte seiner Produktion, es sind Truthähne und deren Fleisch, schickt Rosner ins Ausland, das meiste davon nach Deutschland. Über eine Grenze, die nun keine mehr ist.

2003 hat er die ersten Gelder aus dem sogenannten Strukturfonds beantragt, für Anpassung an die neuen Normen. Danach noch zwei Mal, wieder erfolgreich. Er investierte, kaufte neue Maschinen, Gebäude, Land. 80 Leute hat er eingestellt, sein Familienbetrieb arbeitet auf Hochtouren. Maciej Rosner ist heute ein EU-Optimist.

Die Erfolgsgeschichte von Rosner ist in Gozdnica jedoch eine Ausnahme. Denn die Gozdnicer EU-Optimisten profitieren überraschend wenig von der Osterweiterung. Finanziell jedenfalls. „Viele haben erwartet, dass Investoren zu uns hinziehen und neue Arbeitsplätze schaffen“, sagt Bürgermeister Plaziak. Daraus wurde nichts. Schlechte Infrastruktur, schlechte Straßen und Bahnverbindungen ermutigen nicht dazu. Die Arbeitslosigkeit wuchs auf 40 Prozent. Jobs gibt es nur bei den Behörden, in den Schulen und in der mittlerweile einzigen Baukeramikfabrik.

Trotzdem profitieren die Bewohner. Weil die Arbeit nicht zu ihnen kam, suchten sie im Ausland. Nach der Osterweiterung noch massiver als zuvor schon, sie gehen nach Irland, Großbritannien, Belgien, seltener nach Deutschland. Deshalb ist die Akzeptanz für die EU in Gozdnica immer noch hoch. Nicht so hoch wie einst – besonders deshalb, weil es viele der Enthusiasten waren, die auswanderten –, doch „über die Hälfte ist es auf jeden Fall“, sagt Plaziak.

Von 95 Prozent herunter auf 50 plus, das ist viel. Politische Naturgesetze können also auch außer Kraft treten, mit der Zeit und all dem, was sie mit sich bringt.

Die neue EU-Freizügigkeit bringt unter anderem mit sich: die „EU-Waisen“, Kinder, die dageblieben sind, deren Eltern aber im Ausland arbeiten. Von 130 Oberschülern in Gozdnica sind 40 von nur einem Elternteil, viele sogar von anderen Familienmitgliedern großgezogen worden.

Ewa aus der Gozdnicer Oberschule wird ihrem Vater bald folgen. Er arbeitet in Belgien. Dort will sie erst einmal weiter zur Schule gehen. Grenzen sind ihr und ihren Mitschülern offensichtlich fremd. „Nach Dresden können sie genauso einfach fahren wie nach Breslau“, sagt Emilia Osinska, ihre Lehrerin. „Jetzt denken sie häufiger regional als national. Und Cottbus oder Dresden gehören eher zur Region als Warschau.“ Irmina, Ewa und Lukasz waren neun, als ihre Eltern über Polens EU-Beitritt entschieden haben. Auf das Ergebnis von damals sind sie stolz. „Wir haben damit gezeigt, dass Gozdnicer klug und modern sind“, sagen sie. Lukasz will nach dem Abitur eine Firma gründen, mithilfe von EU-Zuschüssen, das weiß er schon. Was für eine Firma es sein soll, weiß er noch nicht.

Agnieszka Hreczuk

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