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Die Grünen-Politikerin Renate Künast ist das jüngste prominente Fake-News-Opfer. Sie hat Strafanzeige erstattet.

© dpa

Facebook in der Kritik: Die Lüge im Hetzwerk darf leben - solange sie keinem Menschen schadet

Die Forderung nach neuen Strafvorschriften zur Abwehr von "Fake News" entspringt einem Irrtum über die Meinungsfreiheit. Ein Kommentar.

Im Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts berichtete die Londoner „Times“ von der Erstürmung Sewastopols. Ein tatarischer Kurier, der abgefangen worden sei, habe die Botschaft bei sich getragen. Es war eine Falschmeldung, erfunden, die als Tatarenmeldung in die Zeitungsgeschichte einging. Heute hat sie einen anderen Namen und bereitet Regierungen Kopfzerbrechen: Fake News.

Das jüngste prominente Opfer ist Renate Künast. Ein vielfach geteiltes Foto von ihr meldete zur Mordtat von Freiburg, die einem Flüchtling vorgeworfen wird: „Der traumatisierte junge Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen.“ Als Quelle wurde die „Süddeutsche Zeitung“ angegeben. Die Grünen-Politikerin erstattete Strafanzeige. In der CDU werden seitdem Stimmen laut, dass „gezielte Desinformation zur Destabilisierung eines Staates“ unter Strafe gestellt werden soll. Sind das auch Fake News?

Fast klingt es so. Der Vergleich des Künast-Falls mit der Tatarenmeldung zeigt, dass es sich nicht um ein qualitatives Problem handelt: Falschmeldungen und Falschbehauptungen, Verleumdung und übles Nachreden sind unschön, aber gewöhnlich im öffentlichen Diskurs. Es ist ein quantitatives Problem. Die Vermassung und der schnelle Konsum von Nachrichten machen Lügengeschichten, die wie Nachrichten erscheinen, zu einer gesellschaftlichen Größe. Zudem ist einige Perfidie im Spiel, die zeigt, dass wir uns moralisch nicht nur zum Besseren entwickeln. Fake News mit Horrornachrichten über Gewalttaten von Migranten und die in deutschen Fake News beliebte Schilderung angeblicher Nachsicht von Grünen-Politikern bedienen die Klischees und eröffnen eine nach oben offene Wut-Empörungs-Eskalation.

Das kann Folgen haben. Etwa die, dass ein Verirrter in einer Washingtoner Pizzeria um sich schießt, weil er im Internet gelesen hatte, dass Hillary Clinton und ihr Wahlkampfmanager von dort aus einen Kindersexring betreiben. Oder dass Menschen eine Abscheu gegen Politiker entwickeln, die diese nicht verdient haben, selbst wenn man sie als Gegner der eigenen und natürlich exklusiv richtigen Ansichten betrachtet.

Der Vorstoß der CDU, Fake News unter Strafe zu stellen, ist keine Lüge. Aber er ist ein Irrtum, und zwar ein Irrtum über die Freiheit und den Austausch von Meinungen in demokratischen Staaten. „Gezielte Desinformation“, das kann man jedem Medium vorwerfen, das aus täglich tausenden Nachrichten eine Handvoll auswählt, etwa der „Tagesschau“. Und „Destabilisierung des Staates“ klingt ungut nach dem politischen Äußerungsstrafrecht, das wir aus Diktaturen kennen.

Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung sind strafbar. Sind Politiker Opfer, wird die Tat besonders hart bestraft. Gegen Falschmeldungen unterhalb dieser Hürde helfen zivilrechtliche Unterlassungsansprüche. Man muss sie aber durchsetzen können. Hieran hapert es in der Multimillionenwelt der sozialen Hetzwerke. Wenn rechtspolitisch etwas zu ändern ist, dann hier. Die Lüge, die keinem Menschen schadet, hat ein Recht darauf, erlogen zu werden.

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