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Willkommende Fachkraft: Der millionste Gastarbeiter der Bundesrepublik, der Protugiese Armado Rodrigues, bekam bei seiner Ankunft im Köln-Deutzer Bahnhof am 10. September 1964 ein Moped geschenkt.

© dpa

Fachkräfte-Debatte: Zuwanderung: Wohin es Arbeitnehmer zieht

CSU-Chef Horst Seehofer hat sich gegen einen zusätzlichen Zuzug von Fachkräften etwa aus der Türkei oder arabischen Ländern ausgesprochen. Andere wollen gezielt um qualifizierte Arbeitnehmer aus dem Ausland werben. Wie funktioniert Zuwanderung in Deutschland?

Erst war es der sozialdemokratische Ex- Bundesbanker Thilo Sarrazin, der mit Thesen zu türkischen und arabischen Einwanderern auf scharfe Kritik stieß. Nun irritiert CSU-Chef Horst Seehofer. Da sich diese Gruppen mit der Integration besonders schwertäten, solle es keine „zusätzliche Zuwanderung“ von dort geben. „Den Fachkräftemangel beheben wir nicht durch Zuwanderung aus andern Kulturkreisen“, sagte er dem „Focus“.

Wer wandert eigentlich nach Deutschland ein?

Nicht sehr viele, meinen die Verfasser einer neuen Studie des Bundesamts für Migration, die sich mit der „Deckung des Arbeitskräftebedarfs durch Zuwanderung“ beschäftigt. Immer mehr ausländische Arbeitskräfte wanderten dagegen ab. Was die Hoch- und Höchstqualifizierten angeht, kamen 2009 nur 311 aus dem Nicht-EU-Ausland. Das sei zwar mehr als 2008, bewege sich aber „insgesamt auf einem eher niedrigen Niveau“. Die gute Hälfte – 54 Prozent – der Nicht-EU-Ausländer, die bereits in Deutschland arbeiten, sind qualifizierte Arbeitskräfte, 23 Prozent sogar hochqualifiziert.

Ist Deutschland also kein Einwanderungsland mehr?

Einwanderung erlebte Deutschland immer, im Nachkriegsboom stiegen die Zahlen jedoch rasant. Auf dem Höhepunkt der Anwerbung von „Gastarbeitern“ 1970 lag der Zuzug bei einer Million, heute – die jüngsten Zahlen sind die für 2009 – hat ein knappes Fünftel oder 16 Millionen der in Deutschland lebenden Menschen einen „Migrationshintergrund“. Das heißt, sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern sind oder waren Einwanderer. Sieht man sich allerdings die letzten Jahre an, dann ist Deutschland inzwischen ein Auswanderungsland. Nachdem die Tendenz zur Netto-Abwanderung von Deutschen bis vor wenigen Jahren durch Zuwanderung von Ausländern mehr als ausgeglichen wurde, gab es 2008 eine Trendumkehr: Erstmals wanderten auch insgesamt mehr Menschen ab als ein. Dieser Trend scheint sich zu stabilisieren.

Welche Ideen gibt es, wie Zuwanderung gesteuert werden kann?

Ein Punktesystem, wie es andere Länder praktizieren, schlug schon vor neun Jahren die Zuwanderungskommission der Bundesregierung unter der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth vor. Die Experten um die CDU-Politikerin empfahlen, Einwanderer ins Land zu lassen, die zumindest 65 bis 70 Prozent einer Höchstpunktzahl erreichten, etwa für Berufsqualifikation, Alter – die Bewerber sollten nicht älter als 45 Jahre alt sein – und für die Sprachkenntnisse der Kandidaten. Obwohl die Kommission vorsichtig vorschlug, das Ganze in einer Testphase zu erproben und das Schlupfloch kontrollierter Einwanderung vorerst für 20 000 Ausländer zu öffnen, hatte der Vorschlag keine Chance: Ein Jahr vor der Bundestagswahl fürchtete Innenminister Otto Schily (SPD) schon die Möglichkeit, dafür zur Zielscheibe im Wahlkampf zu werden – zumal Süssmuths Leute darauf hinwiesen, dass nicht die gesamte Einwanderung nach Wunsch zu gestalten sei und etwa Flüchtlinge oder Familiennachzug weiter möglich sein würden.

Wie integrationswillig sind Migranten?

Zehn bis 15 Prozent Integrationsverweigerer unter den Migranten – als Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) kürzlich damit Schlagzeilen bekam, fragten Bundestagsabgeordnete der Linken und Grünen nach. Die Antwort des Ministeriums zeigte eine schwammige Beweislage: Man bezog sich auf Studien, die bei zehn Prozent der Muslime ein „integrationshemmendes“ Religionsverständnis ausmachten. Als Verweigerer gilt dem Ministerium auch, wer einen Integrationskurs nicht besuchte. Gründe dafür wurden nicht erforscht. Zudem werden seit diesem Sommer Kursteilnehmer abgewiesen, weil das Geld nicht reicht – die zuständige Abteilungsleiterin im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sprach vor Wochen von einem „ungeheuer großen Zulauf zu den Kursen“.

Dass ein wesentliches Problem womöglich bei der Mehrheitsgesellschaft liegt, zeigte vor einem Jahr eine nichtrepräsentative Befragung der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung unter jungen deutschtürkischen Akademikern: 36 Prozent von ihnen sehen ihre Zukunft eher in der Türkei. Mit Deutschland könnten sie sich nicht identifizieren. Es sei eben frustrierend, wenn ein türkischer Akademiker viermal mehr Bewerbungen schreiben müsse als sein deutscher Kommilitone, meinte der Leiter der Studie damals. Da kann auch jenes Jahr knapp werden, das seit 2009 allen ausländischen Uniabsolventen zugestanden wird, um sich einen Job in Deutschland zu suchen. Bisher mussten sie mit dem Examen in der Tasche praktisch sofort zurück.

Was müsste sich ändern?

Wo die Angst vor dem Fremden stärker ist als die vor Fachkräftemangel, hat eine engagierte Einwanderungspolitik wenig Chancen. Kleine, aber praktische Schritte zu mehr Anerkennung sind allerdings in Vorbereitung: Auf Einladung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wollen ab Herbst vier große deutsche Unternehmen, ein Mittelständler und das Bundesfamilienministerium anonyme Bewerbungsverfahren testen. Dabei käme es nicht mehr auf Herkunft, sondern nur noch auf Qualifikation an. Spätestens Ende des Jahres soll zudem nach den Worten der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer (CDU) ein Gesetzentwurf vorliegen, der die zügige Anerkennung ausländischer Abschlüsse erleichtert. Zu viele ukrainische Ärztinnen oder russische Ingenieure, deren Qualifikation in Deutschland nichts gilt, fahren deshalb Taxi, schrubben Büroräume oder hängen am Tropf des Staates. Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit hatte 2009 jeder vierte Hartz-IV-Empfänger mit Migrationshintergrund einen ausländischen Berufs- oder Hochschulabschluss.

Wichtiger wäre vermutlich eine andere „Willkommenskultur“. Das Gefühl vieler Migranten, weniger anerkannt zu sein als ethnisch Deutsche – in einer Bertelsmann-Studie sagten dies im vergangenen Jahr 61 Prozent der Deutschtürken –, spiegelt sich in der rasant wachsenden Ablehnung des „Fremden“ seitens der Mehrheitsgesellschaft. Ende September, auf dem Höhepunkt der Sarrazin-Debatte, sagten in einer Allensbach-Umfrage schon mehr als die Hälfte der Deutschen, sie hielten Muslime für eine Last.

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