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© Mike Wolff

Fall Kundus: Afghanistans Anwälte kommen aus Berlin

Ihr Büro liegt am Kurfürstendamm, ihre Mandanten leben am Hindukusch – Berliner Juristen wollen den Hinterbliebenen der Bombenopfer von Kundus zu Entschädigungszahlungen verhelfen. Mit Kampfgeist und Hightech. Und etwas Angst.

Auf einmal stand dieser kleine Junge in dem ärmlichen Raum, umringt von drei Dutzend bärtigen Männern. Der Junge stellte sich vor, erzählte, wusste nicht mehr weiter, erzählte wieder, davon, dass er zwölf Jahre alt sei und seine Eltern tot seien, seitdem Bomben in der Nähe seines Dorfes abgeworfen wurden. Jetzt sei er das Familienoberhaupt und müsse seine fünf Geschwister ernähren. Er war die fünf Kilometer von seinem Dorf nach Kundus gelaufen, weil er gehört hatte, dass Männer aus Deutschland da seien und Geld bringen würden.

An diesem Donnerstagmittag ist der afghanische Junge auf einer Leinwand in Berlin zu sehen, in einer Anwaltskanzlei am Kurfürstendamm. Hier sind die Räume weitläufig und mit Parkett ausgelegt. Im Besprechungszimmer steht ein riesiger Flachbildschirm, an der Wand hängt die Leinwand. Eine Ecke ist mit einer Kamera ausgestattet, eine andere mit Mikrofonen. Hier finden Videokonferenzen statt mit Kollegen in Bremen und Frankfurt. Denn die Ansprüche armer Dörfler in Afghanistan gegenüber der Bundesregierung zu vertreten, ist nichts, was ein Anwalt allein erledigen kann. Da reichen auch nicht Mitgefühl und ein gutes Herz. Es braucht eine ausgefeilte Strategie und Gespür für den richtigen Moment.

„Hier ist das Headquarter“, sagt Andreas Schulz. Er ist der Chef der Kanzlei, 58 Jahre alt und erinnert mit Glatze und Dreitagebart an Bruce Willis. Und so wie die Willis-Helden inmitten eines harten Auftrags wirken, kampferprobt, angespannt und gleichzeitig lässig, so lässt sich Andreas Schulz jetzt in einen schwarzen Stuhl fallen. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Schadenersatzrecht. Er fing an mit Mauerschützen-Prozessen, später hat er Angehörige der Opfer des Anschlags auf die Berliner Diskothek La Belle vertreten, dann hatte er mit den Folgen des Flugzeugmassakers über Lockerbie zu tun, mit dem Kosovo-Krieg, mit Opfern der Terroranschläge vom 11. September 2001 und von Djerba, zuletzt mit somalischen Piraten. Er kenne die Dynamik von politischen Entschädigungsverfahren, sagt Schulz. Und man hat den Eindruck, er kenne sie besser als die Bundesregierung. Er weiß, was wirkt vor den Fernsehkameras, er kann Druck aufbauen. Manche nennen ihn „ausgebufft“. Und, ja, eigentlich gefalle ihm die Bezeichnung, sagt er.

Als er hörte, dass der Bremer Rechtsanwalt Karim Popal Unterstützung bei der Vertretung der Hinterbliebenen der Bombenopfer von Kundus sucht, sei er sofort eingestiegen. Die Bombardierung zweier gestohlener Tanklastwagen, der folgenreichste Luftangriff, den ein deutscher Soldat seit dem Zweiten Weltkrieg angeordnet hat. „Ich habe gleich geahnt, dass dieser Fall die Chance hat, völkerrechtlich relevant zu werden.“ Und er habe vermeiden wollen, dass ein Leben in Afghanistan, nur weil sich ein Anwalt nicht mit internationalem Schadenersatzrecht auskennt, „auf 1000-Dollar-Basis abgehandelt wird“. Vergangenen Montag hat Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zugesagt, dass die zivilen Opfer entschädigt werden. Und am gestrigen Freitag ist Guttenberg noch einmal nach Kundus geflogen, um sich über die Lage zu informieren und den Soldaten den Rücken zu stärken. Dabei versprach er erneut, eine „rasche und unkomplizierte Entschädigung“ ziviler Opfer.

Und kommenden Montag hat Schulz den ersten Termin im Verteidigungsministerium. Ein Erfolg.

Schulz entriegelt auf dem Laptop die Pausentaste. Das Video auf der Leinwand zeigt jetzt eine ältere Frau, die in einem grün gestrichenen Raum auf einem Kissen am Boden sitzt und schluchzt und das Gesicht immer wieder hinter einem Tuch verbirgt. Sie sagt, dass vier ihrer Kinder getötet wurden und dass sie am Morgen, als sie nach ihnen in der Asche bei den beiden bombardierten Tanklastern suchte, abgerissene Arme, Köpfe und Beine gefunden habe. Dann spricht Noorjan A., ein jüngerer Mann mit schwarzem Bart. Was von seinem rechten Arm noch da ist, hat er in einen dicken Verband gehüllt und mit einem Tuch umwickelt. Er erzählt, wie sie alle aus dem Dorf in der Nacht zum 4. September versucht hätten, von den beiden Tanklastern Benzin zu holen, als auf einmal Flugzeuge am Himmel aufgetaucht seien. Nach einer Pause fügt er hinzu: „Tausend Menschen! So viele Taliban gibt es doch in ganz Afghanistan nicht.“

Ein paar Stunden später an diesem 4. September klingelte bei Anwalt Karim Popal in Bremen das Telefon. Ein Freund aus Kundus war dran. Der Freund wohne in der Nähe einer Krankenstation und habe beobachtet, dass viele Verletzte angeliefert worden seien. Er habe versucht, herauszufinden, was geschehen sei, aber der Gouverneur habe die Gegend um die Tanklaster abgeriegelt. Popal sei doch Anwalt, er müsse etwas tun. Dann, sagt Popal, hat er im deutschen Radio von dem Luftangriff gehört und Verteidigungsminister Franz Josef Jung geglaubt, als der in einem Interview sagte, es seien „ausschließlich terroristische Taliban getroffen worden“. Aber sein Freund habe behauptet, es seien Kinder umgekommen.

Popal, 53 Jahre alt, stammt aus Afghanistan. Er ist mit Hamid Karsai verwandt, mit 19 Jahren flüchtete er nach Deutschland, studierte Jura und machte eine Anwaltspraxis auf . In den vergangenen Jahren hat er in Afghanistan mitgeholfen, ein neues Rechtssystem aufzubauen. Eine Woche lang habe er versucht, von Deutschland aus in Erfahrung zu bringen, was am 4. September in Kundus geschehen sei. Dann sei er hingeflogen. Er habe mit den Dorfältesten gesprochen, die ihm von getöteten Familienvätern und Söhnen erzählt haben. Er sagt, er sah verzweifelte Frauen, die ohne Mann und Söhne jetzt schutzlos sind, er traf den weinenden Schuldirektor, der von 20 vermissten Kindern erzählte. „Kinder sind doch keine Taliban“, sagt Popal. Dass Jung nach dem Luftangriff tagelang beteuert habe, der Kommandeur vor Ort habe „eindeutige Beweise“, dass es sich bei den Personen bei den Tanklastern „ausschließlich um Aufständische handle“, hat ihn empört. Er tat sich mit einer Abgeordneten aus Kundus zusammen, mit Vertretern von Frauenorganisationen, einem Geistlichen, Clanältesten und einem Dorfbürgermeister. Es sei nicht einfach gewesen, ihr Vertrauen zu gewinnen, sagt er am Telefon. Er habe viel erklärt über Deutschland, dass man hier sogar die Bundeskanzlerin anklagen kann. Da hätten ihn die Dörfler mit großen Augen angeschaut.

Bei seiner zweiten Reise kam der Berliner Anwalt Markus Goldbach mit. Er ist der frühere Assistent von Andreas Schulz, jetzt ein eigener gestandener Anwalt. Er sollte schauen, wer dieser Karim Popal eigentlich ist und ob der wirklich mit den Afghanen umgehen kann.

Markus Goldbach, 34, hat das Video aufgenommen, das jetzt auf der Leinwand in der Berliner Kanzlei zeigt, wie ein Mann mit langem weißen Bart seinen Fingerabdruck unter ein Dokument setzt, auf dem „Vollmacht“ steht. Schulz sagt, dass er die ganzen Gegenargumente aus früheren Prozessen kenne: Ein Fingerabdruck auf einer Vollmacht? Der könne ja von jedem beliebigen Menschen stammen. Und woher man ohne Totenschein wissen wolle, dass jemand tot ist? Um diese und andere Fragen zu entkräften, habe er Goldbach eine Kamera mitgegeben. Der hat gefilmt, wie Popal den Text der Vollmacht auf Paschtu vorliest, wie die einzelnen das Dokument unterschreiben.

Viele Afghanen besäßen Ausweise noch von früher, die über die Verwandtschaftsbeziehungen aufklären, sagt Markus Goldbach. Der zwölfjährige Junge hat den Ausweis seines Vaters in die Kamera gehalten. Väter zeigten Fotos und Schülerausweise ihrer Kinder. Man könne ja auch ein forensisches Team schicken, sagt Schulz, die DNS der Toten nehmen und mit der der Familienangehörigen abgleichen. „Und wie kann ich feststellen, wer Taliban war und wer nicht?“, fragt Schulz und schaut in die Weite des Raums. „Das kann ich mit letzter Sicherheit nur von mir selbst sagen.“

Der Bürgermeister habe eine Erklärung geschrieben, dass er seine Leute kenne und versichere, dass von den Dorfbewohnern keiner zu den Taliban gehöre. In Deutschland gebe es die gesetzlich verankerte Vermutung der Richtigkeit eines offiziell ausgestellten Dokuments. Wenn man davon ausgehe, dass in Afghanistan in den vergangenen Jahren ein neues Rechtssystem aufgebaut wurde, dann müsse das dort auch gelten, sagt Schulz. Aber auf diese „juristischen Spitzfindigkeiten“ werde es nun nicht mehr ankommen, glaubt er. Seit Anfang der Woche sei der politische Wille da, schnell zu entschädigen. Ohne Gerichtsverfahren, ohne Bürokratie.

Markus Goldbach hört ruhig zu. Dieses Verfahren ist eine große Chance für ihn. Aber es hat ihn nicht gedrängt, nach Afghanistan zu reisen, so nah an den Krieg. „Das sind ganz einfache Menschen, denen man ansieht, dass sie ihr Leben lang gearbeitet haben. Und dann so eine Katastrophe“, sagt er und schaltet das Video aus. An diesem Samstag wird er mit Karim Popal wieder in ein Flugzeug nach Kundus steigen.

Manchmal sei ihm der Krieg viel zu nahe gerückt, sagt Goldbach. Zum Beispiel an jenem Abend in Kundus, als er im Pensionszimmer saß, das man von allen Seiten einsehen konnte. Und Popal zu ihm sagte: „Bist du dir eigentlich bewusst, dass wir die einzigen Ausländer in der ganzen Region sind?“ – die Amerikaner warfen gerade Bomben in der Gegend ab – „Wir wären die idealen Ziele für Rache.“ Da habe er Angst bekommen.

Goldbach klickt auf dem Laptop eine Datei an, eine Tabelle. In der linken Spalte sind 43 Namen aufgelistet, das sind die Angehörigen der Opfer, die Mandanten der Anwälte. Neben jedem Namen steht die Zahl der jeweiligen Toten, „8 child, 1 woman“ zum Beispiel. Das sei ihre Arbeitsliste aus Kundus. Karim Popal übersetzte in den vergangenen Tagen weitere Vollmachten und Dokumente, die ihm nachgeschickt wurden. Bis Montag, wenn Schulz ins Verteidigungsministerium geht, soll alles fertig sein. „Wir haben jetzt 78 Mandanten“, sagt Goldbach, „von denen 139 Verwandte getötet wurden.“ 20 weitere seien verletzt worden, 20 verschollen. Die Nato spricht von bis zu 142 Toten.

Wie hoch die Entschädigung ausfallen solle, da habe er sich nicht festgelegt, sagt Schulz. Die Zahl 500 000 pro Person gefalle ihm, aber ob das die richtige sei? Er wisse es nicht. Auch nicht, wie das Geld zu den Leuten kommen soll. Fest stehe nur: Wenn man sich mit dem Ministerium nicht einigen könne, müsse man letztlich auf Amtshaftung klagen. „So ein Prozess würde sich Jahre hinziehen und könnte die ganze Afghanistan-Mission kippen.“ Er meint, dass sich wohl kein Soldat noch trauen würde, irgendetwas zu befehlen in Afghanistan, solange nichts entschieden sei. Das Parlament, die öffentliche Diskussion … Es soll keine Drohung sein. Schulz will mit dem Ministerium eine Lösung finden. Ein Ministeriumssprecher stellte am Freitag klar, dass es da auch gar nichts zu drohen gebe. Schließlich habe man von Anfang an gesagt, falls es zivile Opfer gegeben habe, werde man sich um die Angehörigen kümmern. Das habe auch der damalige Verteidigungsminister Jung gesagt. „Das machen wir jetzt auch“, sagt der Sprecher.

Schulz und seinen Kollegen wäre es am liebsten, man würde gemeinsam nach Kundus fliegen, um dort zu prüfen, wie viele Opfer es tatsächlich gebe. Das will Schulz am Montag vorschlagen. Sein Visum für Afghanistan hat er am Donnerstag in der Botschaft abgeholt.

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