zum Hauptinhalt

Fall Marwa: Es liegt nicht an Tschetschenien

Russische Bürgerrechtler beklagen die zunehmende Islamophobie im Herkunftsland des Täters von Dresden.

Angegriffen, schikaniert, bedroht: In Russland, wo der Messerstecher von Dresden aufgewachsen ist, sind islamfeindliche Übergriffe beinahe Normalität. Allein 2008 wurden in der ersten Jahreshälfte über 170 rassistisch motivierte Verbrechen mit 80 Toten und über 200 Verletzten registriert – doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Zentren des Fremdenhasses sind neben Moskau und St. Petersburg die Ural-Region Jekaterinburg, das Gebiet Uljanowsk an der Wolga und das südrussische Woronesch. Opfer sind dabei nicht nur Gastarbeiter aus den zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken und den muslimischen Regionen im russischen Nordkaukasus oder farbige Studenten. Auch dunkelhäutigere Christen wie Georgier und Armenier müssen um ihr Leben fürchten. Auf die Titelseiten überregionaler Zeitungen schaffen es dabei aber nur die wenigsten Fälle.

Wer wie einige deutsche „Experten“ versuche, das Phänomen mit Islamophobie und traumatischen Erlebnissen russischer Soldaten im Tschetschenienkrieg zu erklären, mache sich die Sache aber zu einfach, meinen russische Ethno-Psychologen. Russen, so ihre Argumentation, würden sich auch im 21. Jahrhundert nur bei akuter äußerer Bedrohung als eine Nation fühlen, ansonsten aber ihre Identität aus der Zugehörigkeit zu Regionen herleiten. Diese würden wegen der Größe des Landes und der extremen klimatischen Bedingungen jedoch nur begrenzt miteinander kommunizieren. Daher gäbe es sogar zwischen Südrussen und Sibiriern Berührungsängste.

Dazu kommt, dass Gebiete mit nichtrussischer Bevölkerung wie Tatarstan oder der Nordkaukasus bis heute nur vertikal – also in der Verwaltung – nicht jedoch horizontal und damit wirtschaftlich und sozial integriert sind. Beides schlägt in einem ungünstigen sozialen Kontext wie jetzt in Zeiten der Wirtschaftskrise in latenten Fremdenhass um.

„Es fehlt ein Regulativ“, klagt Natalja Rykowa vom Moskauer „Büro für Menschenrechte“. In Russland gäbe es kaum Bücher oder Filme, die für Toleranz werben. Dafür aber sieben Verlage und etwa 100 Zeitungen, die Fremdenhass propagieren. Trotz mehrfach verschärfter Mediengesetzgebung sind diese legal und oft sogar als Streiter für den rechten Glauben getarnt. Die orthodoxe Quasi-Staatskirche stärkt ihnen zwar nicht öffentlich den Rücken, distanziert sich aber auch nicht von ihnen. Die Folge: Andere Bekenntnisse rüsten ideologisch ebenfalls auf und grenzen sich ab.

Fremdenhass, warnt Bürgerrechtlerin Rykowa daher, werde in Russland zunehmend salonfähig. Auch weil die Übeltäter mit ausgesprochen milden Strafen davonkommen. Die Geschworenen, sagt Rykowa, hätten oft Kinder, die im gleichen Alter wie die zunehmend jugendlichen Delinquenten sind und mit den gleichen Ideen wie diese sympathisieren. Ihr Mitleid gelte daher meist nicht den Opfern, sondern den Tätern und deren Familien.

Der russische Staat müsse endlich eine klare Trennlinie zwischen gesundem Patriotismus und Nationalismus ziehen, fordert sogar ein hundertprozentig loyaler Staatsdiener: Nikolai Swanidse. Er leitet den Nationalitätenausschuss der Öffentlichen Kammer – eines Kontrollgremiums aus den Reihen der Zivilgesellschaft, dessen Mitglieder freilich von Putin persönlich ernannt werden. Swanidse gehört zu den Stars des Staatsfernsehens RTR. Im vergangenen Sommer sagte der Fernsehmoderator, er wolle keine Namen nennen, habe aber hohen Beamten aus dem Innenministerium vor laufender Kamera wegen nationalistischer Ausfälle den Ton abdrehen müssen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false