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Politik: Falsche Sicherheit

Zu lange habe Ankara Warnungen vor Terror missachtet, meinen Kritiker – doch auch Türken sind bei Al Qaida aktiv

NACH DEN ANSCHLÄGEN AUF SYNAGOGEN IN ISTANBUL

Jetzt hat es auch uns getroffen! – das war am Sonntag die bestürzte Reaktion vieler Türken auf die Anschläge in Istanbul. Lange Zeit hatte sich das Land vor dem internationalen Terrorismus noch relativ sicher gefühlt. Doch die verheerenden Autobomben-Anschläge in der Innenstadt ihrer Metropole am Samstag haben diese Annahme widerlegt. Es sei „Zeit zum Aufwachen“, schrieb die Zeitung „Vatan“. Die Türkei sei viel zu lange davon ausgegangen, Anschläge wie in Marokko, Kenia oder Saudi-Arabien seien auf ihrem Staatsgebiet unmöglich, finden Kritiker. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die Wachsamkeit der Sicherheitsbehörden vor den Anschlägen zu wünschen übrig ließ.

Die Anschläge könnten ein Zeichen dafür sein, dass der militante Fundamentalismus in der Türkei stärkeren Halt hat als bisher angenommen. Die Täter – ob es sich nun um türkische oder nicht-türkische handelt – konnten den für 23 Menschen tödlichen Doppelschlag vorbereiten, ohne dass die Behörden davon Wind bekamen. Sie konnten sich Sprengstoff, Autos, gefälschte Kennzeichen und falsche Papiere besorgen und ihre Ziele auskundschaften.

Offenbar wussten sie sogar, dass die beiden Synagogen am Samstagmorgen wegen großer Bar-Mizwah-Feiern besonders gut gefüllt sein würden. Dazu ist ein einheimisches Umfeld von Verschwörern notwendig.

Aus Sicht vieler Experten reicht es deshalb nicht, dass Polizei, Geheimdienst und Regierung nach den Anschlägen fast reflexhaft auf das Terrornetzwerk Al Qaida verweisen. Dass zu Al Qaida auch einige türkische Kämpfer gehören, sei den Behörden seit langem bekannt, sagt der Islamismus-Experte Rusen Cakir. Diese Leute seien in Afghanistan, Bosnien und im Kaukasus aufgetaucht. Auch gab es Berichte über Verbindungen zwischen der in Deutschland beheimateten und dort verbotenen türkischen Extremistentruppe „Kalifatsstaat“ und der Organisation Osama bin Ladens. Vier Türken sitzen unter Terror-Verdacht im berüchtigten Gefängnis auf dem US-Stützpunkt Guantanamo ein.

Die Türkei war trotzdem davon ausgegangen, dass der militante Fundamentalismus bei ihr im Land keine Chance hat. Bei vielen Polizeiaktionen in den vergangenen Jahren waren zahlreiche Mitglieder dieser Szene verhaftet oder getötet worden. Die Reste von Organisationen wie IBDA-C oder türkischer Hisbollah seien außer Gefecht gesetzt worden, glaubten die Behörden. Das war möglicherweise ein Fehler.

Erst vor drei Wochen habe die Istanbuler Polizei nach Lieferwagen gefahndet, die angeblich mit Sprengstoff beladen in der Nähe von Synagogen unterwegs waren, berichten die Zeitungen; die Suche wurde aber bald wieder eingestellt. Der US-Geheimdienst CIA habe die türkischen Behörden schon vor Monaten vor Al-Qaida-Mitgliedern gewarnt, die über die Grenze von Iran aus einsickern könnten, um Anschläge zu verüben. Der israelische Geheimdienst Mossad habe Warnungen an Ankara gerichtet; die jüdische Gemeinde in Istanbul hatte ebenfalls verstärkte Sicherheitsmaßnahmen gefordert. Auch in verschiedenen Äußerungen führender Al-Qaida-Mitglieder waren Drohungen an die Türkei enthalten.

Es habe „ganz bestimmt keine Lücken“ bei den Sicherheitsvorkehrungen gegeben, verteidigte sich Innenminister Abdülkadir Aksu. Dass unter den Todesopfern ein Polizist war, der vor einer der beiden Synagogen Dienst tat, dient als Beweis dafür, dass sich die Behörden der Gefahr für die jüdischen Bürger bewusst war.

Die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wird nach dem Schock nicht einfach zur Tagesordnung zurückkehren können. Die Attentäter hätten es an einer Synagoge wie der Neva Schalom, die in den letzten Jahren bereits zweimal Ziel von Anschlägen war, nicht so leicht haben dürfen, kritisierte „Vatan“.

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