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Politik: Familienalbum der Kriegsverbrecher

WAHLEN IN SERBIEN

Von Caroline Fetscher

Wahrscheinlich ist Serbien das einzige Land Europas, in dem sich eine Wählermehrheit für inhaftierte, mutmaßliche Kriegsverbrecher engagiert. Wer die Website der Radikalen Partei Serbiens öffnet, der blickt sogleich in das Gesicht des ParteiVorsitzenden Vojislav Seselj. Darunter, wie zum Trotz, dessen aktuelle Adresse: UN-Gefängnis, Pompstationsweg, Scheveningen, Niederlande. Mit 27,3 Prozent zieht seine Partei als Wahlsieger ins neue Parlament ein. Symbolisch, so war erwogen worden, solle Seseljs Sessel frei bleiben. Serbien liefert Europa ein Godot-Szenario, ein Stück Beckett auf der politischen Bühne.

Doch das Kuriosum sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier bewusst reale Macht vergeben wurde an existierende Menschen, die aus der Vergangenheit nicht gelernt haben und dennoch über die Zukunft entscheiden wollen. Leute, die jenen Seselj wählen, der einmal erklärt hat, man müsse Gegnern die Augen mit rostigen Löffeln auskratzen. Auch Slobodan Milosevics Sozialistische Partei wartet stolz auf mit einem „Helden in Haft“. Entsetzt greifen sich die Demokraten in Europa an den Kopf. Was ist geschehen? Vor allem: Was ist nicht geschehen?

Serbien sei auf dem Weg zur Demokratie, hieß es, nachdem im Sommer 2001 die Leitfigur des alten Regimes mit einem Helikopter im Hof der Haager Haftanstalt gelandet war. Eine Viertelmillion Tote, vor allem Bosnier, hatten Milosevics Kriege für „Großserbien“ gekostet. Doch der Kriegsherr blieb unbeschadet an der Macht. Im Fall Kosovo dann reagierte der Westen entschlossener als beim Bosnienkrieg. Kaum war Milosevic fort, da wurde aus dem Horrorstaat das Sorgenkind. Milliarden an Aufbauhilfen flossen, Millionen stellte die internationale Gemeinschaft für das UN-Tribunal bereit. Nicht gespart wurde an politischer Assistenz, an Projekten und Seminaren. Mit dem Wachsen der Macht des westlich geschulten Demokraten Zoran Djindjic schien der Schatten über Südosteuropa zu schwinden.

Und anderswo tauchten andere Schatten auf – in Afghanistan, im Irak. Aufmerksamkeit und Gelder des Westens wurden umgelenkt. Serbien? Das wird schon, sagten westliche Diplomaten und Politiker sogar nach dem Schock über die Ermordung des Regierungschefs Djindjic im März 2003 wieder. Sie haben sich selbst beruhigt – und getäuscht. Unterschätzt wurde der National-Narzissmus einer Gesellschaft, die, nach jahrelanger Propaganda vom eigenen Glanz überzeugt, die Helden des nationalen Familienalbums zu mutmaßlichen Massenmördern degradiert sah – eine Gesellschaft, die sich weigert, dem eigenen Täter-Trauma ins Antlitz zu schauen. Der Westen wollte nicht sehen, wie eng gestrickt das serbische Netz war, das sich unter dem Paten Milosevic zwischen Staat, Mafia, Armee und Polizei entwickelt hatte, getragen von chauvinistischen Schulbüchern und korrumpierten Medien. In diesem Netz, das Djindjic den Tod brachte, hatten und haben viele Spinnen Platz.

Ja, der demokratischen Welt nach dem Mund reden, das beherrscht auch der im Westen gern als „moderater Nationalist“ bezeichnete Vojislav Kostunica, der jetzt mit Koalitions-Optionen jongliert. Zuhause lässt er durchblicken, dass er kein Freund des Tribunals in Den Haag ist. Dem unermüdlichen Gericht teilten jetzt anderthalb Millionen Serben ihren Missmut mit. Auf einer Wahlparty widmete Tomislav Nikolic, Seseljs Mann in Belgrad, den Erfolg seiner Partei allen in Haag einsitzenden Serben – ein Schlag ins Gesicht der demokratischen Förderer des Landes. Ob und wie sich die demokratischen Splitterparteien auf ein gemeinsames Programm einigen, ist ungewiss.

Keine demokratische Schutzmacht oder wohl wollende Besatzung wie in Deutschland nach 1945 achtete mit Nachdruck darauf, dass demokratische Standards zu Praxis werden, dass der Schleier aus Lügen und Korruption wirklich zerreißt. Nationbuilding, erst recht in einer Nachkriegsgesellschaft, ist kein langer, ruhiger Fluss, an dessen Ufer man Erfolge angelt. Demokratisches Nationbuilding ist ein schwieriger Prozess, der ein enormes Maß an Einsatz verlangt, Zuverlässigkeit statt Fahrlässigkeit. Uns muss das Risiko bewusst werden, zwischen all den Krisen die akute Realität aus den Augen zu verlieren. Ein unverzeihliches Risiko.

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