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Politik: Familienanschluss gesucht

Jahrelang hat Europa die Zustände in Rumäniens Kinderheimen kritisiert. Jetzt löst Bukarest sie auf. Denn das Land möchte Mitglied der EU werden

Ein Strahlen geht über ihr Gesicht: Rumänisch, erzählt die neunjährige Manuela, sei am Vormittag dran gewesen. Und Religion. Schule mache ihr mächtig Spaß. Manuela ist eines von 60 Kindern, die im Kinderheim der westrumänischen Industriestadt Resita untergebracht sind. Dann die Frage, weshalb sie nicht mehr bei ihren Eltern lebt: Das Lächeln verfliegt. „Ihr Vater hat die Familie vor Jahren im Stich gelassen“, erklärt Heimleiterin Lucretia Ioya. Ihr Schicksal ist eines von vielen Zehntausenden in Rumänien. Von den Eltern verlassen, landen sie im Heim. Andere werden bereits als Babys unter falschem Namen abgegeben.

Aber wenn alles klappt, wird Manuela schon bald in einer betreuten Wohngemeinschaft leben, zusammen mit fünf Gleichaltrigen und einer Betreuerin. Eine Art Familienersatz soll das Ganze werden, erklärt die Heimleiterin – ein Projekt, das für Manuela ein „großes Glück“ bedeute. Dies verdankt sie einer Gesetzesänderung der rumänischen Regierung: Darin ist die Auflösung der staatlichen Kinderheime vorgesehen. Stattdessen sollen kleinere Wohngemeinschaften gegründet oder die Kinder in Gastfamilien untergebracht werden.

Ganz freiwillig hat die Regierung allerdings nicht gehandelt: Die Abschaffung der großen, staatlichen Kinderheime steht auf dem Forderungskatalog der Europäischen Union. Und dort möchte Rumänien im Jahre 2007 Mitglied werden. Den EU-Verantwortlichen sind die Bilder aus rumänischen Kinderheimen noch gegenwärtig, die kurz nach der Revolution im Dezember 89 um die Welt gingen: Kinder, die dahinvegetierten wie Tiere, sich in ihrem eigenen Kot wälzten, nicht sprechen konnten – der Schock über diese Zustände sitzt bis heute tief.

Dennoch ist die Auflösung der Heime nicht unumstritten. Hubertus Gollnick, einst Kinderheimleiter in Nordrhein-Westfalen, hat vor über zehn Jahren den deutsch-rumänischen Verein „Hilfe für Kinder“ aus der Taufe gehoben. Gollnick, der mittlerweile im westrumänischen Temeswar lebt und sich ehrenamtlich um Heim- und Straßenkinder kümmert, wirft den EU-Verantwortlichen Inkompetenz vor: „Die ignorieren völlig die Tatsache, dass sich die Zustände in den rumänischen Heimen deutlich verbessert haben.“ Für jedes Kind seien dort ein eigenes Bett und drei Mahlzeiten am Tag gewährleistet.

In potenziellen Gastfamilien sehe das hingegen anders aus: Viele, so Gollnick, bewerben sich um die Aufnahme eines Heimkindes nur, um an die monatliche Aufwandsentschädigung von 50 Euro heranzukommen. Viel Geld in einem Land, in dem der monatliche Durchschnittslohn unter 200 Euro liegt. Dabei seien regelmäßige Mahlzeiten und ein eigenes Bett keineswegs sichergestellt, ganz abgesehen von der versprochenen menschlichen Wärme einer Familie. Und auch in dem Versuch, statt der großen Heime kleinere Wohngemeinschaften zu bilden, sieht Gollnick puren Etikettenschwindel: „Das einzige, was sich verändert, ist die Anzahl der Direktoren. Die geht nach oben.“ Jeder Flur eines Heimes werde zur eigenständigen Wohneinheit erklärt, mit eigenem „Direktor“. Faktisch ändere sich aber kaum etwas. „Bevor man so etwas macht, muss sich erst einmal die materielle Lebensgrundlage der Familien ändern“, meint der Experte.

Maria Volunitiru sieht die Dinge völlig anders. Für die Sprecherin der rumänischen Organisation „Firecari copil au familie“ (Für jedes Kind eine Familie) gibt es zum Leben in einer Familie keine Alternative: „Größere Heime – das können Sie mit einer Armeekaserne oder gar mit einem Gefängnis vergleichen.“ Nach dem neuen Gesetz müssten die Familien, die sich um die Aufnahme eines Heimkindes bewerben, ein gesichertes Einkommen sowie ausreichend Wohnraum nachweisen und eine entsprechende Überprüfung hinter sich bringen. Die Auflösung der großen rumänischen Kinderheime hat bereits begonnen und ist nicht mehr aufzuhalten. Zählte das Heim in Resita im vergangenen Jahr noch 150 Kinder, so sind es derzeit gerademal noch 60 Mädchen und Jungs.

Thomas Wagner[Bukarest]

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