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Politik: Fast ohne Zeugen

Die Opfer der Erstürmung des Moskauer Musicaltheaters verlangen vor Gericht Schadenersatz – aber keiner der Verantwortlichen wird dort erscheinen

Der Prozess dürfte in die russische Justizgeschichte eingehen und sich über Monate hinziehen: Seit dem vergangenen Donnerstag werden Klagen von Opfern des Moskauer Geiseldramas Ende Oktober verhandelt. 129 der etwa 800 Zuschauer und Mitwirkenden des Musicals „Nord-Ost" starben, fast alle durch den Einsatz eines chemischen Kampfstoffs beim Sturm des Theatergebäudes. Über die Details der Geiselbefreiung herrscht bis heute Unklarheit.

Bisher sind 51 Forderungen von Überlebenden und Hinterbliebenen der Opfer eingegangen, die sich erstmals in Größenordnungen bewegen, wie sie international in derartigen Fällen üblich sind – 500 000 bis zwei Millionen US-Dollar pro Fall. Staranwalt Igor Trunow spricht allein bei den im November eingereichten ersten 24 Einzelklagen, die seit der vergangenen Woche verhandelt werden, von einer Schadenersatzsumme in Höhe von insgesamt rund 60 Millionen US-Dollar. Obendrein haben mehrere Betroffene bereits angekündigt, sich einer Sammelklage anschließen zu wollen.

Klagen gegen die an der Operation beteiligten Sicherheitskräfte lassen einschlägige Gesetze nicht zu. Das freut die Zentralgewalt aus politischen wie finanziellen Gründen. Schadenersatzpflichtig ist daher die Region, auf deren Gebiet die Geiselnahme der tschetschenischen Terroristen stattfand. In diesem Fall ist das die Moskauer Stadtregierung. Deren Entschädigungen indes empfinden die Betroffenen als Hohn: 100 000 Rubel – rund 3000 Euro – gab es pro Todesopfer, Überlebende bekamen genau die Hälfte.

Die Stadt Moskau sei nicht für den Tschetschenienkrieg verantwortlich, wehrte ein Sprecher der Stadtregierung weiter gehende Regressforderungen noch im vergangenen Jahr ab. Außerdem habe die Stadt von sich aus alle Kosten für die Beisetzung und ärztliche Behandlung übernommen. Weitere Forderungen seien durch den Haushalt nicht gedeckt und nur durch Kürzungen im sozialen Bereich finanzierbar.

„Statt unsere und damit die Interessen ihrer Wähler zu vertreten", empörte sich Nikolaj Ljubimow, der zum Wachschutz des Musiktheaters gehörte und dessen linke Körperhälfte seit der Gasattacke empfindungslos ist, „versuchen Stadtregierung und -parlament, die Rentner gegen uns aufzubringen". Menschenleben seien in Russland nie etwas wert gewesen, meint auch Dmitrij Milowidow, der seine 14-jährige Tochter Nina verlor: „Im 21. Jahrhundert müssen die Politiker aber endlich begreifen, dass Macht vor allem Verantwortung bedeutet". Die Mehrheit der Opfer indes steht für Interviews nicht zur Verfügung und zieht einen Gang vor den Kadi nicht einmal in Erwägung. Vor allem Beamte und Angestellte staatlicher und städtischer Behörden fürchten Schikanen und Repressionen. An den ersten beiden Prozesstagen schmetterte die Vorsitzende Richterin, Marina Gorbatschowa, sämtliche Anträge der Kläger auf Zulassung von Zeugen und Beweismitteln einfach ab. Darunter befand sich auch der Bericht einer unabhängigen Untersuchungskommission der Reformpartei „Union der rechten Kräfte", der zum Teil erheblich von den Schlussfolgerungen der staatlichen Ermittler abweicht.

Gescheitert ist auch der Antrag, den Prozess nicht vor einem Stadtbezirksgericht, sondern vor dem Stadtgericht stattfinden zu lassen. Aus gutem Grund: Erst die nächsthöhere Instanz darf Geheimnisträger als Zeugen vernehmen. Dazu zählen alle Beamten aus dem operativen Stab, der die Geiselbefreiung koordinierte.

An einer solchen Vernehmung ist weder der Kreml noch die Stadt Moskau interessiert. An deren Widerstand scheiterten schon Bemühungen, die Klage vor einem Gericht in der Region verhandeln zu lassen. Deren Richter kommen nicht in den Genuss von Wohltaten wie Dienstwohnungen und die Übernahme von Telefonrechnungen. Daher sind sie auch nicht zu beeinflussen.

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