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Politik: "Faszination Freiheit": Mit dem Mut der Verzweifelung

Die Passagiere der heutigen Regionalbahn zwischen Nauen und Berlin-Spandau dürften wohl kaum wissen, dass sich vor knapp vierzig Jahren auf ihrer Strecke eine spektakuläre Flucht abgespielt hat. Es war am späten Abend des 15.

Die Passagiere der heutigen Regionalbahn zwischen Nauen und Berlin-Spandau dürften wohl kaum wissen, dass sich vor knapp vierzig Jahren auf ihrer Strecke eine spektakuläre Flucht abgespielt hat. Es war am späten Abend des 15. Dezember 1961, als der Lokführer Harry Deterling und sein Heizer Hartmut Lichy den Regionalzug, der nach der Grenzziehung nur noch zwischen Oranienburg, Nauen und Falkensee verkehrte, zum erfolgreichen Grenzdurchbruch nutzten. Die Flucht war gut vorbereitet worden.

Bei seiner Suche nach einem Schlupfloch in den Westen stellte er fest, dass der Grenzübergang Falkensee wegen des Interzonenzuges zwischen Hamburg und Berlin noch weitgehend ungesichert war. Das Schienenwerk war intakt, und es fehlten jegliche Entgleisungsweichen. Die Strecke vom letzten DDR-Bahnhof bis zur Grenze betrug genau einen Kilometer, was Deterling als problemlos ansah. Die Lok mit 106 Tonnen Gewicht und 1140 Pferdestärken war so schnell nicht zu stoppen. Die Notbremsanlage wurde fachgerecht ausgehebelt, und vor möglichen Einschüssen der Grenzsoldaten zogen sich Lokführer und Heizer in den Tender zurück. Angehörige und Freunde waren im Verlauf der Fahrtstrecke zugestiegen, um keinen Verdacht zu erregen. Einer von ihnen, der als Musiker in der Staatsoper Unter den Linden tätig war, hätte mit seiner Familie beinah den "Zug in die Freiheit" verpasst. Dank eines Taxis konnten sie noch in der letzten Station vor der Grenze zusteigen.

"Faszination Freiheit" heißt das Buch des Journalisten Bodo Müller, in dem viele spektakuläre Fluchtversuche beschrieben werden. Leider enden nicht alle so glücklich, wie das erwähnte Beispiel. Müller weiß, wovon er schreibt. Er selbst scheiterte 1985 mit seiner Flucht über die Ostsee. Nach Haftstrafe und Berufsverbot durfte er im August 1989 in die Bundesrepublik aussiedeln.

Mit großer Sachkenntnis und Sorgfalt hat er seine Geschichten recherchiert und die Handelnden von damals befragt. Herausgekommen ist ein faszinierendes Buch voller Dramatik, Spannung, aber auch Tragik. Die Lektüre führt uns eindringlich vor Augen, warum das SED-Regime und mit ihr der DDR-Staat über Nacht zusammenbrach, ja zusammenbrechen musste. Freiheit ist unteilbar, brachte es US Präsident Kennedy 1963 bei seinem berühmten Berlin-Besuch auf den Punkt, und der Verlust ist durch nichts ersetzbar.

Die von Müller beschriebenen Flüchtlinge waren alles andere als politische Fantasten oder Eiferer. Sie waren einfach nicht mehr bereit, die Drangsalierungen des diktatorischen Systems hinzunehmen. "Mit Kreativität", schreibt Müller, "Erfindungsgeist und manchmal dem Mut der Verzweiflung suchten sie nach Wegen, um diese Grenze zu überwinden."

Es wäre unfair, hier den Inhalt der verschiedenen Fluchtgeschichten auszubreiten. Nur auf zwei Beispiele sei hingewiesen. Gemeinsam mit dem Dokumentationszentrum zur Geschichte der Berliner Mauer hat es Müller geschafft, Licht in die Geschichte um den "Tunnel 57" zu bringen. Im Oktober 1964 waren in der Bernauer Straße 57 Menschen durch eine Tunnel geflüchtet. Der Zweite Fall ist die Flucht der Gebrüder Bethke am 26. Mai 1989. Die Geschichte von Mathias Rust, der auf dem Roten Platz in Moskau landete, ist nichts dagegen. Nach ihrer erfolgreichen Flucht stellten die Brüder symbolisch ihre beiden Leichtflugzeuge vor dem Reichstag ab, um dann in Berlin "einen drauf zu machen".

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