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Fehler im System: Die große Hartz-IV-Illusion

Hartz IV ist zum Reizwort der Republik geworden. Doch nicht die viel diskutierten Regelsätze sind das Problem, sondern die Reform selbst. Aus ökonomischer Sicht hat das neue System keines ihrer Ziele erreicht: Es ist komplexer und teurer geworden – und von notorische Fehlsteuerungen betroffen.

Gemessen an den Reaktionen von Opposition und Sozialverbänden, könnte man meinen, die Bundeskanzlerin habe soeben die endgültige Abschaffung des Wohlfahrtsstaats verkündet. „Die Würde des Menschen ist mehr als fünf Euro wert“, sagte Renate Künast, Fraktionschefin der Grünen. Die SPD, die über den Bundesrat ein Wort bei der Neuregelung des Hartz-IV-Regelsatzes mitreden kann, hat angekündigt, sie werde „einer offensichtlich verfassungswidrigen Lösung nicht die Hand reichen“.

Für die Arbeiterwohlfahrt steht jetzt sogar „der soziale Frieden auf dem Spiel“. Und die Gewerkschaften, die ohnehin schon für einen „heißen Herbst“ mobilisieren, werfen der schwarz-gelben Koalition nun zusätzlich eine „Beleidigung“ von rund sieben Millionen Menschen vor. Erwerbslosen-Organisationen haben für den 10. Oktober in Oldenburg Demonstrationen für höhere Hartz-IV-Regelsätze angekündigt.

Dabei hat die Regierung soeben angekündigt, die monatlichen Geldleistungen des Staates für Langzeitarbeitslose und ihre Familien um fünf Euro pro Monat zu erhöhen. Der sogenannte Regelsatz, den Hilfebezieher neben den Kosten fürs Wohnen ausgezahlt bekommen, steigt von 359 auf 364 Euro. Rechnet man die außerdem geplanten neuen Bildungsleistungen für Kinder aus Hartz-IV-Haushalten hinzu, dann wird Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) ab 2011 jährlich insgesamt etwa eine Mrd. Euro zusätzlich für die soziale Grundsicherung Hartz IV ausgeben.

Zahl der Hilfebezieher hält sich auf hohem Niveau

Erstaunlicherweise gibt es jedoch keinen Aufruhr darüber, dass die einst mit hohen Ansprüchen umgesetzte Arbeitsmarktreform wesentliche Ziele bisher allenfalls unzulänglich erfüllt: Die Zahl der Hilfebezieher hält sich zäh auf hohem Niveau. Wenn sie zuweilen leicht sinkt, dann hat das oft nur am Rande mit Erfolgen des viel gerühmten Prinzips „Fördern und Fordern“ zu tun – sondern teilweise auch schlicht mit der demografischen Entwicklung.

Und bei alledem ist das System für die öffentlichen Kassen sehr teuer. Insgesamt geben Bund und Kommunen seit dem Start der Reform vor fünf Jahren im Schnitt jedes Jahr mehr als 45 Mrd. Euro für Hartz-IV-Leistungen aus, das sind etwa 20 Prozent mehr als im alten System, als Sozial- und Arbeitslosenhilfe noch getrennt waren.

Allenfalls indirekte, erst recht umstrittene Effekte wie die Ausweitung des Niedriglohnsektors für einfache Jobs schlagen zählbar positiv zu Buche: Wenn die Gesamtzahl der Arbeitslosen im Jahresmittel 2011 erstmals seit 20 Jahren voraussichtlich wieder unter drei Millionen sinke, dann wirkten dabei neben der moderaten Lohnentwicklung „auch die Hartz-Reformen positiv“, hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gerade analysiert.

Es ändert aber zunächst einmal erstaunlich wenig an den Fakten über das Hartz-IV-System selbst: Mehr als 6,7 Mio. Menschen leben nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Haushalten, die von staatlicher Grundsicherung abhängig sind. Fünf Millionen von ihnen gelten als grundsätzlich erwerbsfähig, sind also über 15 Jahre alt und zumindest nicht durch Krankheit oder ähnliche Einschränkungen am Arbeiten gehindert. Allerdings sind nur knapp 2,2 Millionen von ihnen zurzeit konkret als arbeitssuchend registriert.

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Die bemerkenswerte Differenz – fünf Millionen Erwerbsfähige, aber nur 2,2 Millionen Arbeitssuchende – ist eine der erstaunlichen Eigenschaften des Systems. Und sie lässt sich nur teilweise überzeugend erklären: Bei gut 400 000 Erwerbsfähigen handelt es sich zum Beispiel um junge Menschen unter 20, die wegen Schule oder Ausbildung nicht auf Arbeitssuche sind – aber immerhin auf eine Zukunft ohne Hartz IV hoffen können.

Weitere 520.000 nehmen gerade an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teil und werden daher nicht als arbeitssuchend gezählt. Gleiches gilt für einige 100.000 ältere Hartz-Bezieher über 58. Und auch für Mütter mit Kindern unter drei Jahren sowie Mütter mit Vorschulkindern, denen keine Kinderbetreuung zur Verfügung steht. Von diesen Ärgernissen ist aber bei den aktuellen Klagen über die „Kälte“ des deutschen Sozialstaats kaum die Rede.

Dasselbe gilt für eine andere notorische Fehlsteuerung im Hartz-IV-System, die ausgerechnet den Übergang aus Arbeitslosigkeit in Beschäftigung betrifft: Mit den sogenannten Hinzuverdienstregeln für Hartz-IV-Bezieher betreibt der Staat seit fünf Jahren faktisch ein riesiges Förderprogramm für Minijobs: Wer das Arbeitslosengeld II mit einer geringfügigen Beschäftigung kombiniert, kann sein Gesamteinkommen bei geringem Arbeitsaufwand beachtlich erhöhen. Wer dagegen mehr arbeitet und dadurch einen höheren Arbeitslohn bezieht, muss dafür überproportional heftige Abzüge vom Arbeitslosengeld II hinnehmen.

In Zahlen: Ein 400-Euro-Job mit zehn Arbeitsstunden pro Woche bringt für einen Hartz-IV-Bezieher unterm Strich immerhin 160 Euro netto mehr. Von einem 800-Euro-Job mit doppelter Arbeitszeit bleiben indes wegen der höheren Abzüge nur 240 Euro Zusatzeinkommen übrig. Die Folge lässt sich monatlich aus der BA-Statistik ablesen – die Zahl der Minijobber unter den Aufstockern steigt. Von knapp 1,4 Millionen Erwerbstätigen, die ergänzend Hartz IV beziehen, sind inzwischen mehr als die Hälfte lediglich Minijobber.

Im Gesetzentwurf klafft eine Lücke

Genau an dieser Stelle klafft im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesarbeitsministerin aber noch eine Lücke. Schon im Koalitionsvertrag hatten sich Union und FDP eine Reform der Hinzuverdienstregeln vorgenommen. Doch bisher gibt es nur die Ankündigung, dass bis Mitte Oktober ein Konzept erarbeitet werden soll – um aus dem Minijob-Förderprogramm eine Brücke in den Arbeitsmarkt zu machen. Die SPD hat jedoch schon heftigen Widerstand angekündigt, weil sie stattdessen einen gesetzlichen Mindestlohn einführen will.

Die Geldleistungen für Langzeitarbeitslose und ihre Familien werden künftig transparenter ermittelt und unterm Strich etwas höher sein als bisher. Der Weg in einen Job wird damit noch nicht leichter. Doch das ist politisch zurzeit auch nicht das Thema. Die Regierung braucht für ihr Gesetz die Zustimmung der SPD im Bundesrat. Und die hat als Messlatte zunächst einmal einen Regelsatz von 400 Euro pro Monat festgelegt.

Quelle: Handelsblatt

Dietrich Creutzburg

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