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Europas Staatenlenker - haben sie die Finanzen im Griff?

© dpa

Finanz-Prognose: Europas Schulden werden steigen

Die Schulden der EU-Staaten steigen bis 2020 weiter an. Dies prognostiziert zumindest ein Freiburger Ökonom - und widerspricht damit den optimistischeren Annahmen der Brüsseler Kommission. Die einzigen Ausnahmen sind Schweden und Deutschland. Im Nachhaltigkeitsranking des Ökonomen gibt es einen überraschenden Sieger: Italien.

Machen die Staaten der Europäischen Union weiter wie bisher, dann wird der durchschnittliche Schuldenstand bis 2020 von 87 auf 105 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen. Das ist das Ergebnis einer Berechnung des Freiburger Ökonomen Bernd Raffelhüschen. Er ist damit weitaus pessimistischer als die EU-Kommission – folgt man deren Zahlen, liegen die Schulden auch 2020 bei 87 Prozent. Raffelhüschen, der zusammen mit der Stiftung Marktwirtschaft jährlich ein „Nachhaltigkeitsranking“ der EU-Staaten vorlegte, hält diese Annahme jedoch für unglaubwürdig, weil sie von zu optimistischen Prognosen ausgehe.

Nach Raffelhüschens Zahlen werden nur zwei Staaten – Deutschland und Schweden – in acht Jahren einen geringeren Schuldenstand haben als heute. Die Schuldenlast des deutschen Gesamtstaats wird demnach von 82 auf 75 Prozent sinken (im EU-Modell sind es 69 Prozent). Die EU-Berechnung unterstellt einen günstigeren Konjunkturverlauf, als Raffelhüschen und sein Team es tun. Der Freiburger Professor betont zudem, dass die strukturellen Probleme vieler EU-Staaten einer besseren Einschätzung entgegenstehen. Entscheidend ist vor allem die demographische Entwicklung: Der wachsende Anteil zu versorgender alter Menschen macht immer höhere Ausgaben für Renten und Pensionen, Gesundheit und Pflege nötig.

Im Nachhaltigkeitsranking Raffelhüschens ist die Lage noch dramatischer als in der Schuldentabelle, denn der Ökonom zieht dafür nicht nur die explizite Verschuldung der Staaten heran, wie sie in den Etats steht, sondern nimmt auch eine unsichtbare, implizite Verschuldung hinzu – die sich ergibt, wenn man die Zusagen der Staaten an ihre Bürger in den Sozialversicherungs- und Rentensystemen addiert. Diese implizite Verschuldung beträgt für Deutschland derzeit 55 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Auch der Primärüberschuss im Staatshaushalt spielt eine Rolle für die Nachhaltigkeit der Finanzen – also die Fähigkeit der Staaten, mehr einzunehmen als auszugeben, und zwar vor Abzug der Zinszahlungen. Die meisten Staaten Europas schaffen das nach Ansicht Raffelhüschens in den nächsten Jahren nicht (wogegen die EU das bei der Mehrheit der Mitglieder unterstellt). Ohne Primärüberschuss ist Schuldenkonsolidierung aber kaum zu machen.

Spitzenreiter im Nachhaltigkeitsranking ist Italien. Dessen Schuldenstand ist zwar hoch (derzeit 127 Prozent) und wächst auch noch leicht. Doch Italien schafft mit 2,6 Prozent den höchsten Primärüberschuss (vor Deutschland mit 2,3 Prozent), und das schon seit Jahren. Zudem hat Italien nach Ansicht Raffelhüschens ein relativ krisen- und demografiefestes Rentensystem. Daher hat es keine Nachhaltigkeitslücke. "Hätte Italien keine so hohen Schulden, es wäre der Musterknabe Europas", sagt der Ökonom. Auch Lettland steht ähnlich gut da im Ranking. Neben einigen weiteren osteuropäischen Staaten, darunter Polen, die noch eher rudimentäre Sozialsysteme und damit geringere Kosten haben, gehören auch die Bundesrepublik (136 Prozent des BIP), Schweden (177 Prozent) und das „Sorgenkind“ Portugal (188 Prozent) in die Spitzengruppe. Kritisch sieht es für Griechenland (891 Prozent) aus, auch für Luxemburg (1228 Prozent - vor allem wegen eines üppigen Rentenwesens) und das krisengeschüttelte Irland (1378 Prozent) – sie stehen am Ende der Skala. Auch Spanien (805 Prozent) steht dort. Problematisch ist die Lage auch für Belgien (655 Prozent), die Niederlande (565 Prozent) und Großbritannien (639 Prozent). Immerhin können die Briten mit guten Zahlen aufwarten, was die altersabhängigen "Kostentreiber" betrifft. Deutschland liegt hier mit einem Anstieg von 5,9 Prozent der Wirtschaftsleistung (im Zeitraum bis 2060) schlechter als der EU-Schnitt, der bei 4,4 Prozent liegt.

Unangenehm ist die aktuelle Situation übrigens auch für die Amerikaner: Die Nachhaltigkeitslücke der USA - die Addition von expliziter und impliziter Verschuldung - beziffert Raffelhüschen auf 1337 Prozent. Und das ist noch deutlich schlechter als Griechenland - oder fast das Zehnfache Deutschlands. Allerdings haben die USA eine nach wie vor relativ dynamische Wirtschaft und eine vergleichsweise geringe Staatsquote - und bei den Steuern jedenfalls theoretisch noch ziemlich viel Luft nach oben. Während in Europa meist die Rentensysteme für hohe implizite Schulden verantwortlich sind, ist es in den USA laut Raffelhüschen der Gesundheitssektor.

Deutschland hat, um seine Nachhaltigkeitslücke zu schließen, laut Michael Eilfort von der Stiftung Marktwirtschaft einen Konsolidierungsbedarf von 2,9 Prozent des BIP. Das entspricht 75 Milliarden Euro im Jahr – und müsste durch Ausgabensenkungen oder höhere Einnahmen finanziert werden. Oder beides.

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