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Finanzkrise: Griechenland steht vor dem Staatsbankrott

Der Druck auf die griechische Bevölkerung wächst. Viele Menschen haben kein Geld mehr. Aber die Griechen sehen nirgends, dass sich die Entbehrungen lohnen. Wer kann, flieht aus dem Land.

Wenn Anna Polini die Gardine ihres Wohnzimmerfensters aufzieht, sieht sie auf ein prächtiges Panorama: Das elegant geschwungene Glasdach das Athener Olympiastadions glitzert in der Abendsonne. Weiter rechts ragt die Kuppel des Velodroms auf. Dazwischen erstreckt sich die von schlanken Stahlbögen überspannte Agora, allesamt Insignien früherer Triumphe. Jeden Abend hat sie hier am Fenster gesessen, „das hier war mein Logenplatz“, sagt sie und erinnert sich an das Feuerwerk, die funkelnden Lichter, die Musik, die vielen zehntausend Menschen aus aller Welt. Es waren magische Tage, aber die sind lange her. Was Anna Polini erinnert, sind die Olympischen Spiele vom August 2004. Lange sieht sie aus dem Fenster in eine menschenleere, geisterhafte Stadtlandschaft, dann zieht sie den Vorhang zu. „Vorbei, alles vorbei“, sagt Anna Polini, die 72 Jahre alt ist.

Ihr Land steht am Rand des Staatsbankrotts. Trotz immer neuer Rettungspakete, trotz aller Opfer, die Premier Giorgos Papandreou seinen Landsleuten auf Druck der internationalen Gläubiger abverlangen muss, wird die Lage immer auswegloser. Daran ändern auch die neuen Spargesetze nichts, die das Athener Parlament diese Woche verabschiedete. Die Wirtschaft schrumpft, der Schuldenberg wächst. Auch Anna Polini bekommt das zu spüren. Der Staat hat die Rente der Witwe – ihr Mann war bei einem staatlichen Unternehmen beschäftigt – bereits von 940 auf 820 Euro gekürzt. Jetzt drohen weitere Einschnitte und höhere Einkommenssteuern. Auch die Heizölpreise sind seit dem vergangenen Jahr um 40 Prozent gestiegen. „Das wird für mich ein schwieriger Winter“, sagt Anna Polini.

Ein Land stürzt ab. Der Niedergang ist auch vor Anna Polinis Haustür im Athener Olympiapark nicht zu übersehen. Unkraut überwuchert das umzäunte Gelände. Viele Bäume und Sträucher sind verdorrt. An den kühn geschwungenen Stahlkonstruktionen des spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava nagt Rost. Die Griechen bringen Opfer, aber sie sehen nicht, dass sich die Entbehrungen lohnen. Der Sparkurs treibt Griechenland immer tiefer in die Rezession. In diesem Jahr wird die Wirtschaft um fast sechs Prozent schrumpfen. Auch die Hoffnung, es werde im kommenden Jahr wieder ein Wachstum geben, hat sich zerschlagen. Es geht weiter bergab.

Die Hermes-Straße, benannt nach dem antiken Gott der Kaufleute, die vom Syntagmaplatz am Parlament hinunter in die Altstadt führt, war früher Athens belebteste Shoppingmeile. Jetzt steht hier jedes vierte Geschäft leer. „Enoikiazete“ steht an den Schaufenstern: zu vermieten. In den Vorstädten sieht es noch schlimmer aus. Die „Florida Mall“, ein Einkaufszentrum im Küstenvorort Glyfada. Der Name klingt nach Luxus, die Wirklichkeit ist trist. Mehr als die Hälfte der Läden ist zu. Im ersten Stock ist nur noch ein Lokal vermietet. „Wir kaufen Gold – Bargeld sofort!“ steht auf dem Schaufenster. Der Inhaber sitzt in seinem karg möblierten Laden, seine einzige Begleitung ist eine Zimmerpflanze aus Plastik. Auskunft geben will er nicht, „Diskretion“, sagt er nur. Das sei in seiner Branche unerlässlich, die davon lebt, dass stille Reserven aufgelöst, Schmuck in Banknoten eingetauscht werden. Es ist ein Krisengeschäft, aber Kunden hat auch er nicht.

Das goldene Jahr 2004 scheint unendlich weit zurückzuliegen. Erst wenige Wochen vor den Olympischen Spielen hatte Otto Rehhagel die griechische Fußball-Nationalmannschaft zum Europameistertitel geführt. Dann die fröhliche, friedliche Olympia-Show. Es war das Jahr der Griechen. Es war auch ein Jahr des politischen Wandels. Im Frühjahr musste der sozialistische Premier Kostas Simitis abtreten. Er hatte Griechenland zwar Ende der 90er Jahre in die Wirtschafts- und Währungsunion geführt, aber dafür seinen Landsleuten ein hartes Konsolidierungsprogramm zugemutet. Der Euro war damals populär in Griechenland, die Sparmaßnahmen waren es nicht. Und so servierten die Griechen Simitis ab und wählten den konservativen Kostas Karamanlis zu ihrem Ministerpräsidenten.

Die Griechen waren entschlossen, den Euro für sich zu nutzen. Dank billiger Kredite ermöglichte ihnen die neue Währung einen Wohlstand, den sie sich mit der chronisch kränkelnden Drachme nie hätten leisten können. Auch der Staat ließ sich von den niedrigen Zinsen und der erstklassigen Bonität, die das Land als Euro-Staat anfangs besaß, verführen.

Zu tausenden verlassen junge Griechen ihre Heimat. Lesen Sie auf Seite 2, warum vor allem Hochschulabsolventen gehen.

Die Auflagen des Stabilitätspaktes nahm man in Athen nie besonders ernst, zumal niemand den Griechen auf die Finger zu sehen schien. In fünf Regierungsjahren verdoppelte Karamanlis das Haushaltsdefizit von 7,5 auf 15,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Vor allem dadurch, dass er zehntausende Griechen in den Staatsdienst einschleuste und Parteigänger mit Posten versorgte. Es sollte ein Wiederwahlmechanismus sein. Denn der eine Job, den die Regierung einem Getreuen im Apparat bescherte, sicherte der konservativen Partei Nea Dimokratia 30 Stimmen einer Großfamilie. Als Karamanlis 2009 das Finanzdesaster über den Kopf wuchs, ergriff er die Flucht. Er führte Neuwahlen herbei, die er nicht gewinnen konnte. Staatsschulden von 183 Milliarden Euro hatte er 2004 übernommen, Verbindlichkeiten von 325 Milliarden hinterließ er.

Sein Nachfolger Giorgos Papandreou bürdet den Griechen jetzt bereits das vierte Sparpaket in zwei Regierungsjahren auf. Und auch dieser Beschluss im Parlament ist wieder von Ausschreitungen und Massenprotesten begleitet worden. Die meisten Griechen machen sich über die Lage ihres Landes keine Illusionen mehr. Zwei von drei Bürgern, so eine Umfrage, erwarten eine Staatspleite. Und nicht nur finanziell ist Griechenland am Ende, auch das politische System ist in den Augen der meisten Griechen bankrott. Laut einer anderen Umfrage sind 91 Prozent der Bürger mit der Regierung unzufrieden, 89 Prozent aber auch mit der Opposition. Auf die Frage, welche der beiden großen Parteien, Sozialisten oder Konservative, das Land besser regieren könne, sagen 71 Prozent: „Keine von beiden.“ Nur noch 16 Prozent halten Papandreou für einen geeigneten Ministerpräsidenten.

Der 59-jährige Premier gehört, wie sein Vorgänger Karamanlis, zu einer der großen griechischen Polit-Dynastien, die das Land im Laufe der Jahrzehnte mit wirtschaftlichen Verflechtungen und Klientelbeziehungen überzogen haben. Dieses Netz lähmt Griechenland und ist eine der Ursachen für die Schuldenkrise. Zumindest gelobt der in den USA ausgebildete Giorgos Papandreou, mit der alten Begünstigungspolitik zu brechen. Aber sein Vater Andreas war es gewesen, der in den 80er Jahren mit seiner hemmungslosen Ausgabenpolitik die Weichen ins Schuldendesaster gestellt hatte.

Das Land bräuchte dringend Investitionen in die Wirtschaft. Aber während sich noch 2010 die ausländischen Direktinvestitionen auf 423 Millionen Euro beliefen, flossen in der ersten Jahreshälfte 2011 bereits über 100 Millionen woandershin ab. Im gleichen Zeitraum verlegten rund 800 griechische Firmen ihren Sitz ins benachbarte Bulgarien, wo sie Steuern und Löhne sparen.

Mit dem Kapital fliehen die Menschen. Zu Tausenden verlassen junge Griechen ihre Heimat, in der sie keine Zukunft mehr sehen. Waren es in den 60er Jahren meist ungelernte Arbeitskräfte aus den Dörfern Nordgriechenlands, so sind es nun überwiegend Akademiker, die Griechenlands jüngste Auswanderungswelle prägen. Eine neue Statistik hat herausgefunden, dass 85 Prozent derjenigen, die im Ausland ihren Studienabschluss gemacht haben, nicht mehr zurückkehren.

Und wer noch da ist, möchte möglichst weit weg, wie Tasos Baloufas. Vergangenen Monat besuchte er in Athen eine Informationsbörse des australischen Einwanderungsministeriums. Der Andrang war riesig. Mehr als 15 000 Interessenten kamen. Der 34-jährige Arzt brauchte nicht lange für seinen Entschluss. Mit seiner Frau und seiner fünfjährigen Tochter will er nach Melbourne ziehen. „Dort verdiene ich als Krankenhausarzt doppelt so viel wie hier, habe größere Aufstiegschancen und eine bessere Lebensqualität“, sagt Baloufas. Und Griechenland? „Ich sehe nicht, dass sich hier in den nächsten zehn Jahren etwas zum Besseren wenden wird, und so lange will ich nicht warten.“

Viele denken wie er. Sieben von zehn griechischen Hochschulabsolventen, so eine Umfrage, denken daran auszuwandern. Es sind die Leistungsträger, die gehen. Es sind diejenigen, die sich wenigstens das noch leisten können.

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