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Fluch und Flucht: Ausländer verlassen Libyen

"Mörder, Gaddafi, Mörder, Gaddafi", rufen sie vor der libyschen Botschaft in Berlin. Vor Jahren sind sie ins Exil gegangen. Aber auch in Libyen selbst sind jetzt viele Menschen heimatlos geworden. Tausende Ausländer versuchen verzweifelt, sich aus dem Chaos zu retten.

In einem Konferenzzimmer sitzt der Vorsitzende der National Oil Corporation, Herrscher über das, was Libyen reich macht, ein sehr freundlicher älterer Herr, und lobt, was gerade vorgeht im Land. Wir bauen auf, sagt Ölminister Shokri M. Ghanem, die Wirtschaft, den Tourismus, eigentlich alles. Finanziert durch die Petrodollars. Und längst unübersehbar in den Straßen von Tripolis, dieser gepflegten Mittelmeerstadt mit ihren sauberen Straßen, restaurierten Wohnhäusern und dem sorgsam geregelten Autoverkehr. Baukräne kreisen im blauen Himmel, Zementstaub liegt in der Luft. Es ist Sommer 2010. Und Libyen ist ein seltsamer Staat mit einem noch seltsameren Herrscher, aber es scheint nicht so, als würde sich daran etwas ändern müssen. Ein halbes Jahr später ist alles anders.

Vom Aufbau, den Shokri M. Ghanem verkündet hat, ist keine Rede mehr. Statt Aufbau ist nun Zerstörung im Land. In den Städten begehren die Libyer auf gegen ihren Revolutionsführer. Ghanem kann sich überlegen, ob er die gerahmten Gaddafi-Bilder, die die langen Flure seiner Behörde schmücken, hängen lässt. Und seine National Oil Corporation muss zusehen, wie ausländische Investoren ihre Fabriken, Raffinerien und Baustellen schließen und ihr Personal abholen. Und hören, dass Zawia bombardiert wird, die Nachbarstadt Tripolis’, in der eine ihrer Tochterfirmen eine große Raffinerie hat.

Unter denen, die das Land verlassen haben, das so etwas wie eine Heimat geworden war, sind die Tavlasoglus. Das türkische Ehepaar, das mit zwei kleinen Kindern im zehnten Stock eines Wohnhauses im Zentrum der libyschen Hauptstadt wohnte, fühlte sich lange Jahre sicher in Tripolis. Bis zum Montag sahen die Eltern keinen Grund, wegen der Unruhen im Land in die Türkei heimzukehren. Doch dann änderte sich die Lage schlagartig. „Plötzlich waren von jetzt auf gleich alle Polizisten und Soldaten von den Straßen verschwunden“, erzählt Hülya Tavlasoglu am Flughafen von Istanbul, wo sie gerade gelandet sind. „Dann kamen Leute in Guerilla-Kampfanzügen, die mit Gewehren bewaffnet waren. Sie schossen auf alles, was sich bewegte. Dabei müssen viele Menschen umgekommen sein.“

Die Tavlasoglus entschlossen sich zur Flucht, und schon ihre Fahrt zum Flughafen wurde zum Horrortrip. Um sie herum war jede Ordnung zusammengebrochen, Anarchie und blanke Gewalt regierten. „Überall brannte es“, sagt Hülya Tavlasoglu. „Neben uns zerrten Leute einen Mann in den Kofferraum eines Wagens. Entweder war er schon tot, oder sie wollten ihn umbringen.“ Es wurde geplündert, Autos wurden gestohlen, Geschäfte ausgeraubt.

Die Tavlasoglus schlugen sich zum Flughafen durch und erwischten eine Maschine der Turkish Airlines nach Istanbul. Sie gehören zu etwa 1000 von rund 25 000 türkischen Staatsbürgern, die inzwischen vor dem Chaos in Libyen zurück in die Türkei geflohen sind.

Dass die Tavlasoglus nach Libyen gegangen waren, hing mit Ghanems Petrodollar-Aufbau zusammen. Türkische Bauunternehmen bauen oder bauten jedenfalls bisher in Libyen Wohnhäuser, Einkaufszentren und Hotels. Ein anderer türkischer Rückkehrer berichtete von brennenden Baustellen. Baumaschinen der Türken wurden gestohlen oder angesteckt. Vieles dürfte nicht mehr zu retten sein. Die türkischen Rückkehrer berichten auch von mehreren tausend Toten in Libyen, es seien viel mehr als einige hundert, wie es bisher heißt.

In Bengasi sind rund 4000 Türken in einen Flughafenhangar geflohen und warten auf Rettung. Nahrung und Trinkwasser seien knapp, berichtete die Zeitung „Hürriyet“. Weitere 400 Türken sollen auf einer Baustelle in der Sahara-Stadt Jalo rund 500 Kilometer südlich von Bengasi festsitzen. Am Montag musste eine aus der Türkei entsandte Maschine der Turkish Airlines ohne Passagiere wieder abdrehen, weil sie in Bengasi wegen der prekären Sicherheitslage nicht landen konnte. Inzwischen haben die Türken mehrere Schiffe losgeschickt, um ihre Landsleute aus Libyen herauszuholen. Die Passagierdampfer und Fähren werden von Kriegsschiffen begleitet. Die türkische Regierung hält auch einige Flugzeuge in Bereitschaft, die losfliegen sollen, sobald es die Sicherheitslage erlaubt.

In Bengasi allerdings, von wo die Tavlasoglus einen Tag zuvor flohen, werden sie kaum noch landen können. Der Flughafen der Stadt wurde bombardiert, die Start- und Landebahnen seien nicht mehr benutzbar, berichtete der ägyptische Außenminister Ahmed Abul Gheit am Dienstag. Auch die Fluglinie Egypt Air könne in Bengasi nicht mehr landen. Nun macht der Minister sich Sorgen um seine Landsleute, 1,5 Millionen sollen in Libyen leben, die meisten von ihnen sind Gastarbeiter. Gheit mahnte sie, auf keinen Fall zu versuchen, irgendwie bis zur 500 Kilometer entfernten Grenze zu Ägypten zu gelangen. Das sei zu riskant.

Andere, die schon lange weg sind aus Libyen, stehen an diesem eiskalten Winterdienstag vor der Botschaft Libyens in Berlin. Es ist kurz nach 14 Uhr, als ein Polizist an einen Mann herantritt, der die Flagge des alten libyschen Königreichs um seine Schultern gelegt hat. Die Flagge, Grün, Schwarz, Rot, ist seit Jahren so etwas wie das geheime Zeichen der libyschen Opposition. „Ich zähle jetzt 51 Personen“, sagt ein Polizist, „wollen wir die Versammlung jetzt anfangen lassen?“ Ja, sagen die Männer, dann fangen sie an zu rufen. „Gaddafi, du bist dreckig, Gaddafi, hau ab!“ Sie blicken auf ein weißes Palais, das zwei Messingschilder am Eingangstor als das „Volksbüro der Sozialistisch Libysch-Arabischen Volksjamahiria Berlin“ ausweisen. Sie sind ein Dutzend Rufer hinter einem Absperrgitter. Der Mann mit der Flagge greift nach einem Megafon, er ruft „Mörder, Gaddafi, Mörder, Gaddafi“, die anderen stimmen ein.

Umgeben sind sie von Libanesen, Tunesiern, Ägyptern, Palästinensern, Jemeniten, schweigende Männer und einige wenige Frauen, viele von ihnen mittlerweile erfahren im Meinungsäußern, sie haben demonstriert in den vergangenen Tagen vor den Botschaften ihrer Herkunftsländer, vor dem Auswärtigen Amt, es hat Mahnwachen am Brandenburger Tor gegeben. Sie üben Solidarität. „Man muss sich die arabische Welt wie einen Körper vorstellen“, sagt einer von ihnen, „und wenn eines der Teile dieses Körpers Schmerzen hat, dann schmerzt es eben alle in dieser Welt.“

Noch etwas weiter abseits steht Ahmed Shaladi. Er stammt aus Zawia, jener Stadt westlich von Tripolis, die an diesem Dienstag laut Al Dschasira bombardiert wurde, und Shaladi hat sie seit 1979 nicht mehr gesehen. Er kam als Student nach Deutschland, aus einem Land, das damals schon „von einer Person regiert“ wurde, sagt Shaladi, „von einer einzigen Person. Eigentlich von einer einzigen Laune.“

Diese Laune, wie Shaladi es nennt, hat im Jahr 1982 dafür gesorgt, dass er in einem Gästehaus der libyschen Botschaft in Bonn gefangengehalten wurde und gefoltert. Shaladi sollte Kontakt zu libyschen Oppositionsgruppen im Ausland haben, das war der Vorwurf, es folgte ein 24-stündiges Verhör. Er wurde gefesselt und geknebelt und mit Stöcken geschlagen, ihm wurde Essen und Trinken verweigert und gedroht, glühende Zigaretten in seinen Augen auszudrücken. Anführer der Folterer war ein libyscher Arzt, der damals als Gastmediziner an der Bonner Universitätsklinik arbeitete.

Dieser Mann folgte damit einer Anweisung, die Gaddafi zu jener Zeit mehrfach ausgegeben hatte. „Die Revolution hat jene innerhalb des Landes vernichtet, nun muss sie den Rest im Ausland verfolgen.“ „Jeder Libyer, der ins Ausland reist, will, wenn er loyal zum Heimatland hält, dass Libyen frei sei. Er ist dann für die Eliminierung seiner Feinde verantwortlich, wo immer sie sich befinden.“

Das deutsche Außenministerium intervenierte, Shaladi kam frei, der Arzt vor Gericht, wurde aber vor einer Verurteilung abgeschoben. Gaddafis sogenannte Revolutionskomitees hatten in der Zwischenzeit acht Deutsche in Haft genommen.

Shaladi lebt jetzt in Essen, er sagt: „Das Land rumort seit Jahren.“ Er sagt, dass die Menschen dort Demokratie haben wollten, und dass es nicht um Rache oder Stammesstreit gehe, „das ist nur das Blatt, das Gaddafi zu spielen versucht“, sagt er.

Die Menschen wollen Demokratie, und was will Gaddafi? Shaladi sagt, dass er um seine Familie fürchte. Seit er in Deutschland ist, bekomme sie regelmäßig Besuch von einer der Geheimpolizeien. „Es gibt dort viele Geheimdienste“, sagt Shaladi, „die wetteifern miteinander. Die wollen Sklaven.“

Shaladi war schon am Tag zuvor hier in der Berliner Podbielskiallee. Er hat in die Gesichter einiger Botschaftsmitarbeiter geblickt, sie hatten Flaggen in den Händen. Gaddafis Flaggen, grün, eine Gegendemonstration der libyschen Staatsmacht, unangemeldet. Wer dabei nicht mitgemacht habe, sagt Shalabi, sei umgehend gekündigt worden.

Shalabi ist ein stiller Mann voller Sorge. Sein Bruder sei beim Militär, er habe seit Tagen keinen Kontakt. Shaladi sagt, man solle sich ein Youtube-Video ansehen, wenn man wissen wolle, was mit Menschen passiert, die sich in Libyen weigern, auf die Protestierenden zu schießen. Es heißt „Burned to Death for Not Shooting Protesters in Libya“.

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