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Flucht aus der DDR: Tod an der verlängerten Mauer

Bizarrer Bruderbund: Die DDR soll "Kopfgeldprämien" für jeden getöteten Fluchtwilligen an die bulgarischen Grenzsoldaten bezahlt haben. Das dokumentieren Untersuchungen eines Berliner Wissenschaftlers.

Von Matthias Schlegel

Berlin - Die Grenze an diesem idyllischen Fleckchen in den bulgarischen Rhodopen sieht verlockend harmlos aus. Hier müsste es ein Leichtes sein, hinüber nach Griechenland zu kommen. Das denken Karl-Heinz Engelmann und Siegfried Gammisch, die an jenem Apriltag des Jahres 1966 die Gegend für ihren Fluchtversuch erkunden. Ein tödlicher Irrtum – wenig später sind die beiden 19-Jährigen aus dem sächsischen Schwarzenberg tot. Erschossen von bulgarischen Grenzern.

Der Berliner Politikwissenschaftler Stefan Appelius hat insgesamt 850 Fluchtfälle von DDR-Bürgern an den damaligen Grenzen Bulgariens zu Griechenland, der Türkei und Jugoslawien dokumentiert – gescheiterte, geglückte und tödlich verlaufene . Bei seinen Recherchen kam er zu Erkenntnissen, die ähnlich auch für die damaligen Grenzregimes in anderen „Bruderländern“ der DDR gelten dürften: Dort wurden Einzelpersonen und ganze Familien ausgelöscht, deren genauen Schicksale bis heute oft ungeklärt sind. Und bei seinen Nachforschungen erhärtete sich ein Verdacht, der bereits 1993 von der bulgarischen Oppositionszeitung „Anti“ geäußert worden war: Bulgarische Grenzsoldaten hätten von der DDR-Botschaft für jeden getöteten Fluchtwilligen eine „Kopfprämie“ von 2000 Lewa – das entsprach damals rund 1000 D-Mark – erhalten.

Appelius hat seit 2005 mit ungezählten Zeitzeugen, Familienangehörigen, ehemaligen Grenzern, Politikern gesprochen, in bulgarischen Kliniken und auf Friedhöfen recherchiert. Eine schriftliche Bestätigung dafür, dass es diese Geldzahlungen tatsächlich gegeben hat, liegt ihm nicht vor. Doch allein die Obduktionsberichte, die Angaben über die Verletzungsmuster, die widersprüchlichen Aussagen in den Protokollen der Todesschützen und die Tatsache, dass manche der Opfer nicht einmal ordnungsgemäß beigesetzt, sondern eilig im Grenzgebiet verscharrt wurden, lassen den Schluss zu, dass es „regelrechte Hinrichtungen“ gegeben habe, sagte Appelius dem Tagesspiegel.

Ihm kommt es auf darauf an, möglichst viele Einzelschicksale zu rekonstruieren, die von den DDR-Behörden ganz bewusst verschleiert worden seien. Es geht ihm nicht um billige Zahlenhascherei. Doch mit seinen Recherchen wird Appelius gleichwohl zum Chronisten eines bislang wenig erforschten Kapitels der eingemauerten DDR und ihres „Bruderbundes“ zu anderen sozialistischen Staaten. Insgesamt habe es an den bulgarischen Außengrenzen zwischen 1961 und 1989 mindestens 4500 Fluchtversuche von Ostdeutschen gegeben, sagt Appelius. Davon seien die meisten – etwa 95 Prozent – durch Festnahmen vereitelt worden, rund drei Prozent waren erfolgreich. Etwas mehr als zwei Prozent, also rund 100 Fluchtversuche, hätten tödlich geendet.

Weil der Druck von Angehörigen der getöteten „Grenzverletzer“ auf die DDR-Staatsorgane immer größer wurde, schloss die DDR-Botschaft in Sofia mit dem bulgarischen Generalstaatsanwalt 1975 ein Geheimabkommen ab. Es legte fest, dass die Leichen der im Grenzgebiet getöteten DDR-Bürger künftig in die Heimat zu überführen oder auf einem bulgarischen Friedhof beizusetzen seien. Für Appelius lässt das im Umkehrschluss zu, dass das bis zu diesem Zeitpunkt eben nicht die Regel war, sondern die Leichen am Tatort einfach entsorgt wurden, um Spuren zu verwischen.

Der Wissenschaftler, dessen Interesse für Bulgarien bei einem einjährigen Studienaufenthalt in Sofia geweckt wurde, bedauert, dass die bulgarischen Behörden bei diesem Thema wenig kooperationsbereit sind. An die einschlägigen Akten im Innenministerium ist er bisher noch nicht herangekommen. Vielleicht könnten sie auch Auskunft darüber geben, wo die sterblichen Überreste der beiden 19-Jährigen aus Schwarzenberg geblieben sind. Deren Eltern hatten es bis zu ihrem Tod in den 90er Jahren nicht erfahren. Doch die Schwester von Karl-Heinz Engelmann indes gibt nicht auf.

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