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Migranten, die es in Calais über die Absperrungen des Kanaltunnels geschafft haben.

© dpa

Flucht durch den Kanaltunnel: Warum versuchen so viele Flüchtlinge, nach England zu gelangen?

Die Bilder von Calais zeigen: Flüchtlinge wollen nicht allein dort hin, wo ein Staat sich kümmert, sondern wo sie auf Bekanntes stoßen. Das muss unser Verständnis von Migration verändern. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es mehr Tote geben wird am Eingang zum Kanaltunnel. Das kann sich jeder ausrechnen, der die Bilder aus Calais sieht: Tausende campen im Freien und rennen in Stoßtrupps gegen die Absperrungen an, auch wenn Polizisten Warnschüsse abgeben. Diese Bilder müssten aufrütteln. Was ist das für ein Europa, in dem Binnengrenzen mit Waffen verteidigt werden?

Sie müssten unser Denken, was Menschen zur Migration und zur Auswahl ihrer Wanderungsziele bewegt, in neue Bahnen lenken. Sie widerlegen viele Glaubenssätze, die man im Meinungskampf um die richtige Flüchtlingspolitik hört, ganz voran den Glauben an die zentrale Rolle des Staats bei der Lösung. Sie zeigen eine Kluft zwischen den theoretischen Rechts- und Verwaltungsvorgaben der EU für den Umgang mit Flüchtlingen und der Realität.

Warum ausgerechnet Großbritannien?

Warum ist ausgerechnet Großbritannien für Zehntausende ein gelobtes Land in Europa? Das ist eine unbequeme Frage sowohl für jene, die behaupten, dass alle nach Deutschland wollten, als auch für jene, die dem deutschen Staat mangelnde Empathie vorwerfen. Die es bis Calais geschafft haben und ihre Zukunft auf der britischen Seite des Kanals suchen, haben bereits mehrere sichere EU-Staaten durchquert. Sie sind offenkundig nicht auf der Suche nach Asyl in dem engen Sinn, den das Recht definiert: der erste sichere Zufluchtsort, wo keine Verfolgung droht. Dafür müssten sie nicht nach Großbritannien, das hätten sie auf ihrer langen Flucht früher haben können. Sie suchen ihre Ziele auch nicht danach aus, wo der Staat die höchsten Sozialleistungen, attraktivsten Unterkünfte und ausgeklügelsten Integrationsprogramme mit Sprachkursen und Jobvermittlung bereit stellt.

Migration beruht auf „Push“- und „Pull“-Faktoren. Der Hauptgrund, warum Menschen ihre Heimat verlassen und nach Europa kommen, ist nicht Armut, sondern Krieg. Das belegen die Statistiken. Lässt man die Sonderfälle Kosovo, Albanien, Serbien auf den Plätzen 2, 4 und 6 beiseite – dazu später –, liegen Syrien, Afghanistan, Irak, Eritrea, Pakistan, die Ukraine vorn. Die oft zu hörende Behauptung, dass halb Afrika sich auf den Weg mache, ist falsch. Von dort kommen 19 Prozent der Flüchtlinge – ganz überwiegend aus nur drei der mehr als 50 Staaten Afrikas: Eritrea, Nigeria, Somalia.

Die Syrer, Afghanen, Iraker, Eritreer, Pakistani und Ukrainer wollen gewiss nicht alle nach Großbritannien. Warum es aber so viele sind, erklärt sich aus dem Motiv, das seit Jahrhunderten Menschen leitet, die ihre Heimat auf der Suche nach einer besseren Zukunft verlassen, und der britischen Kolonialgeschichte. Wenn schon in die Fremde, dann dorthin, wo man Anlaufstellen hat: Familie, Bekannte – oder eine Gemeinschaft aus der eigenen Heimat und Religionsgruppe. Menschen suchen in solchen Situationen nicht den helfenden Staat, sondern Seelenverwandte, die Erfahrung mit dem Abenteuer des Ankommens haben. So sind Hugenotten und Holländer nach Brandenburg gekommen, so sind „Little Italys“ und Chinatowns quer durch die USA gewachsen und deutsche Siedlungsgebiete in Osteuropa.

Warum denken wir zuerst an den Staat?

Warum spielt das Potenzial privater Aufnahme- und Integrationshilfe keine größere Rolle im Umgang mit Flüchtlingen? Warum denken wir zuerst an den Staat, an Verwaltungsvorgänge, Zuteilungsquoten zwischen EU-Staaten und in Gemeinden hinein, die oft überfordert sind? Flüchtlingen wäre besser geholfen, wenn sie an Orte kämen, die kulturelle und konfessionelle Andockstellen bieten. Was soll ein Syrer, der Verwandte in Essex hat, in Sachsen-Anhalt?

Migrationsbewegungen haben zudem ihre eigenen Kommunikationswege – und reagieren rasch auf „Insider-Tips“, wohin es zu gehen lohnt und welche Transitwege am erfolgreichsten sind. Leider nutzen das auch Schlepperbanden, die falsche Hoffnungen wecken, um ein gutes Geschäft zu machen.

Das betrifft vor allem Migranten vom Westbalkan. Kosovaren, Albaner und Serben machen rund ein Drittel derer aus, die ein Bleiberecht beantragen und die Verfahren verstopfen, obwohl ihre Fälle in der Regel unbegründet sind. Diese Staaten zu „sicheren Herkunftsländern“ zu erklären, erleichtert die Ablehnung verwaltungsrechtlich. Der Zustrom wird aber erst sinken, wenn sich in ihrer Heimat herumspricht, dass Geld an Schlepper verlorene Investitionen sind. Da handelt die Bundesregierung innovativ. Sie hat ein Aufklärungsvideo produziert. Gut so. Wie bringt man es am besten an die Zielgruppe? Auch davon verstehen Wanderer zwischen den Welten mehr als die Fachbeamten.

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