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Politik: Flucht nach vorn

Müntefering hat die SPD mit seinem Rentenvorschlag überrumpelt – nun holt er die Union auf seine Seite

Berlin - Über Familienförderung solle diskutiert werden – diesen Wunsch hatte CSU-Chef Edmund Stoiber für den Koalitionsausschuss am Donnerstagabend angemeldet. Das leidige Thema Springer und Kartellrechtsfragen lag in der Luft. Und seit dem Wochenende schien festzustehen, dass sich die Spitzenpolitiker der großen Koalition über die Rente ab 67 die Köpfe heiß reden müssten.

Am Donnerstagmorgen: alle Themen erledigt. Springer durch Entscheidung im Hause Springer. Die Familienbeschlüsse durch einvernehmliche Nachbesserungsarbeit der Fraktionen. Und in fünf Tagen hat diese Bundesregierung besiegelt, wozu sich ihre Vorgänger viele Jahre Zeit gelassen haben: Die Rente ab 67 Jahren wird bis zum Jahr 2029 eingeführt.

Damit hat die große Koalition nicht nur die Öffentlichkeit überrascht. Auch intern herrschte allgemeine Verblüffung. Vor allem über den zuständigen Minister und Vizekanzler Franz Müntefering (SPD), der am Wochenende in einem Interview damit vorgeprescht war, das neue Rentenalter beschleunigt einzuführen. Müntefering bewegte sich damit im Rahmen des Koalitionsvertrags, der die Rente ab 67 im Grundsatz festlegt, mit der Formulierung bis „spätestens 2035“ den Zeitplan aber offen gelassen hatte.

Trotzdem rumste und rumpelte es von Sonntag bis Mittwoch täglich. Denn dass der Vizekanzler seinen Vorstoß nicht in der SPD abgestimmt hatte, zeigte sich umgehend an den vergrätzen Reaktionen der SPD-Politiker aus Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt. Dort finden am 26. März Landtagswahlen statt. Auch der Koalitionspartner fühlte sich nicht durch Absprachen gebunden. Erst sprach sich das soziale Gewissen der CSU in Gestalt des Bundesministers Horst Seehofer gegen die Pläne des Kabinettskollegen Müntefering aus. Und als am Dienstag sogar Unions-Fraktionschef Volker Kauder mit kritischen Anmerkungen nachlegte, machte sich im Willy- Brandt-Haus großes Unbehagen breit: das Gefühl nämlich, dass die Union sich in die Büsche schlägt, wenn die große Koalition unangenehme Einschnitte vornehmen muss. Besonders ärgerlich wirkt aus SPD-Sicht der Kontrast: Ein sozialdemokratischer Vizekanzler muss Rentenberechtigte vertreten, während die auf internationaler Bühne glänzende Bundeskanzlerin dazu auffällig schweigt.

Also rumste es kräftig in der so genannten Zehner-Runde, die sich stets am Mittwochmorgen vor der Kabinettsitzung trifft: der Vizekanzler, die SPD- Minister, Fraktionschef Peter Struck und Parteichef Matthias Platzeck. Mit Münteferings Vorstoß war es unmöglich geworden, im Interesse der SPD- Wahlkämpfer die Rentendiskussion erst nach den Landtagswahlen zu führen. Platzeck drängte auf Flucht nach vorn: Ein schneller Beschluss und gemeinsame Verantwortung des ganzen Kabinetts, Seehofer und Regierungschefin eingeschlossen. Müntefering überbrachte Angela Merkel die Botschaft, stellte seinen erstaunten Kabinettskollegen ein konkretes Konzept vor und erhielt das Plazet der großkoalitionären Bundesregierung. Bis März, so die Hoffnung, herrscht erst einmal Ruhe in der Rentendebatte.

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