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Politik: Fluchtpunkt Straßburg

Türkische Kläger setzen auf Menschenrechtsgericht

Fünf Jahre nach dem Beginn der türkischen EU-Beitrittsverhandlungen geht die türkische Justiz noch immer ohne viel Rücksicht auf rechtsstaatliche Grundsätze gegen Menschen vor, die sie als Staatsfeinde betrachtet. Das hat sich in dieser Woche im Fall der Soziologin Pinar Selek gezeigt, die wegen angeblicher Beteiligung an einem angeblichen Bombenattentat mehr als zwei Jahre in Untersuchungshaft saß, dann aber in zwei Verfahren freigesprochen wurde. Der oberste Gerichtshof in Ankara hat die Freisprüche nun aufgehoben und das Verfahren an ein Gericht in Istanbul zurückverwiesen – in Erwartung einer Gefängnisstrafe für Selek. Obwohl nicht einmal geklärt werden konnte, ob die Explosion in einem Basar in Istanbul im Juli 1998, bei der sieben Menschen starben, ein Bombenanschlag oder eine Gasflaschenexplosion war. Die mittlerweile in Berlin lebende Selek will ihren Fall nun vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bringen. Sie kündigte die Vorlage neuer Beweismittel an, um unter anderem die Vorwürfe zu untermauern, sie sei von der Polizei gefoltert worden.

Der Gang nach Straßburg – damit reiht sich Selek in eine wachsende Reihe von Türken ein, die alle Hoffnung auf ein rechtsstaatliches Verfahren in ihrem eigenen Land aufgegeben haben. Viele von ihnen haben ähnlich groteske Prozesse hinter sich wie Selek. Ein Beispiel ist die Familie Kaymaz aus dem türkischen Kurdengebiet. Vor fast genau sechs Jahren, am 21. November 2004, wurden der Lastwagenfahrer Ahmet Kaymaz und sein zwölfjähriger Sohn Ugur vor ihrem Wohnhaus im südostanatolischen Kiziltepe von der Polizei erschossen. Zunächst erklärten die Behörden, bei den Toten handele es sich um „Terroristen“. Als sich herausstellte, dass eines der Opfer ein kleiner Junge war, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Vier Polizisten kamen schließlich vor ein türkisches Gericht – und wurden freigesprochen. Der Gang nach Straßburg ist die einzige Chance für die Angehörigen der Opfer, die Schuldigen doch noch bestrafen zu lassen. Als Mitglied des Europarats muss sich die Türkei den Urteilen aus Straßburg unterwerfen.

Im Vorjahr stieg die Zahl der Beschwerden aus der Türkei an das Straßburger Gericht um ein Drittel, wie die türkische Richterin bei dem Europa-Gericht, Ayse Isil Karakas, mitteilte. Insgesamt liegen dem Gericht 18 500 Klagen aus der Türkei vor. Mehr Beschwerden gibt es nur gegen die Behörden in Russland. Karakas sieht einen relativ einfachen Grund für die Prozessflut gegen Ankara: Viele türkische Richter ignorieren europäische Rechtsnormen und halten sich eng an den Wortlaut türkischer Gesetze. Dahinter steckt häufig eine klare Absicht: Umfragen haben ergeben, dass sich die meisten Richter und Staatsanwälte nicht primär dem Rechtsstaat und der Wahrheitsfindung verpflichtet fühlen, sondern dem Schutz des Staates vor angeblichen Feinden. Diese Gesinnung erklärt, warum es tausende Verfahren gegen türkische Zeitungen gibt, die über angebliche Putschpläne der Armee berichtet haben – und warum die Anrede „Herr Öcalan“ für den inhaftierten PKK-Chef fünf Jahre Haft wegen PKK-Propaganda nach sich ziehen kann.

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