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Flüchtlinge in der EU und Deutschland: "Die Bevölkerung ist viel weiter als die Politik"

Bei einem Spitzentreffen im Kanzleramt wollen Bund und Länder heute über den Umgang mit der steigenden Zahl von Flüchtlingen inDeutschland beraten. Der ehemalige Bundesminister Christian Schwarz-Schilling fordert seine CDU zum Umdenken auf.


Herr Schwarz-Schilling, Schätzungen zufolge haben allein dieses Jahr 2000 Menschen auf dem Weg nach Europa ihr Leben gelassen. Ist das die Quittung für eine jahrelange verfehlte Asyl- und Einwanderungspolitik Deutschlands und der EU?

So einseitig würde ich das nicht sehen - bei einfachen Begründungen bin ich immer skeptisch -, aber es hat sicherlich damit zu tun. Man hätte schon viel früher anders reagieren müssen. Dass Italien mit dem Programm "Mare Nostrum" Menschenleben vor nationale Politik gestellt hat, hätte uns in Europa ein Ansporn sein sollen. Wenn sich ein Land so in die Bresche wirft, natürlich auch aufgrund seiner geografischen Lage, dann hätten die anderen europäischen Länder Solidarität zeigen müssen, statt sich auf die Drittstaatenregel des Schengener Abkommens zu berufen.

Bräuchten wir, um die Lasten in der EU gerechter zu teilen, eine Quotenregelung?

Auch das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Klar ist allerdings, dass die jetzige Drittstaatenregelung nicht funktioniert und durch ein neues, gerechteres System ersetzt werden muss. Aber wenn zum Beispiel Menschen aus Syrien, aus dem Libanon oder dem Irak nach Europa kommen und in Deutschland schon Verwandte haben, die länger hier leben und weitgehend integriert sind, sollte man sie zu ihren Familien lassen, statt auf dem Papier festgelegten Länderquoten zu folgen und sie etwa nach Irland oder Spanien zu verfrachten. All das sind Punkte, die bei einem Gespräch mit den Erstankömmlingen geklärt und bei der Verteilung in Europa - zum Wohle der Betroffenen - berücksichtigt werden müssten.

Deutschland hat nach wie vor kein umfassendes Einwanderungsgesetz. Ist das angesichts der jetzigen Debatte nicht überfällig?

Das brauchen wir ganz dringend, denn Flüchtlingsströme aus Konfliktgebieten lassen sich mit der jetzigen Asylregelung nicht bewältigen; sie ist ein Nadelöhr.

Christian Schwarz-Schilling (rechts) ist CDU-Politiker und war Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina.
Christian Schwarz-Schilling (rechts) ist CDU-Politiker und war Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina.

© dpa

Wie müsste eine systematische Einwanderungspolitik Ihrer Ansicht nach aussehen?

Wir müssten uns erst einmal darauf einigen, dass es neben dem Asyl, also der politischen Verfolgung, noch andere Fluchtgründe und auch deutsche Interessen gibt. Wir brauchen junge und berufstaugliche Menschen, schon aufgrund unserer demographischen Struktur. Deshalb sollten wir diejenigen, die etwas aus ihrem Leben machen wollen, bevorzugt bei uns aufnehmen, nach festen Kriterien und jährlichen Aufnahmekontingenten. Damit würde man schon mehr als die Hälfte der heutigen Flüchtlinge abfangen und aus der Illegalität nehmen und damit auch den Schlepperbanden das Handwerk legen. Auf diese Weise könnten wir unserer humanitären Verpflichtung nachkommen und zugleich nationale Interessen bedienen. Das Asylverfahren bliebe wieder den echten Flüchtlingen, den politisch, religiös oder kulturell Verfolgten vorbehalten. Das sind die Punkte, die wir in Deutschland endlich besprechen müssen.

Bisher war es doch vor allem Ihre Partei, die CDU, die sich solchen Überlegungen widersetzt hat…

Das stimmt, ich plädiere seit Jahren für eine Reform der Asylgesetzgebung, bisher nur mit mäßigem Erfolg. Aber mittlerweile gibt es auch in meiner Partei zum Glück mehr und mehr Stimmen, die das Problem erkennen und sich trauen, es beim Namen zu nennen. Generalsekretär Peter Tauber zum Beispiel hat sich mit diesem Problem intensiv beschäftigt und klar Position dazu bezogen. Die CDU hat sich nach meiner Wahrnehmung hier in ein neues Stadium begeben.

Sind das nur die Taubers und Schwarz-Schillings oder befindet sich auch die Basis der Partei schon in diesem neuen Stadium?

Wir unterschätzen, dass bei der Bevölkerung eine wirkliche Hilfs- und Willkommenseinstellung vorhanden ist. Es trifft nicht zu, dass die Deutschen, wie vielleicht in früheren Zeiten, am Stammtisch entsprechende Reden schwingen und sich dabei gegenseitig auf die Schulter klopfen - von wenigen Ausnahmen abgesehen. Die heranwachsende Generation ist viel aufgeklärter und hat insgesamt eine andere Haltung zu der Frage. Es sind eher unbewegliche und ängstliche Politiker, die noch im alten Denken verhaftet sind. Das gilt leider auch für meine Partei. Die Bevölkerung ist da viel weiter.

Die CDU und die Einwanderung

Wie groß ist der Teil der CDU-Basis, der einem Einwanderungsgesetz zustimmen würde?

Ich würde sagen, er liegt bei über 50 Prozent. Wenn die Mitglieder merken, es ist ein gerechteres System, das nicht die Schlauen und Gewitzten, sondern einerseits die Tüchtigen und andererseits die Verfolgten begünstigt, dann glaube ich, ist die Zustimmung der Basis sehr hoch. Vielleicht muss man auch über gesonderte Regelungen in den Sozialversicherungssystemen für Einwanderer nachdenken, etwa um Leistung und Gegenleistung über größere Zeiträume zu verteilen. Aber Menschen, die ihr Leben durch eigene Initiative in die Hand nehmen, müssen in unserer Gesellschaft eine bessere Chance bekommen.

Stehen wir also kurz vor einer Zeitenwende in dieser Frage?

Ja, das ist mein Eindruck. Und auch die CSU-Führung täte gut daran, sich mit dem Thema intensiv und sachkundig zu beschäftigen, damit sie nicht eines Tages ganz hinten steht.

Was müsste in der Flüchtlingspolitik nun konkret als erstes geschehen?

Als erstes brauchen wir eine Änderung im Asylrecht selbst: Denn dass der Einzelne, wenn er einer Gruppe angehört, die verfolgt wird, nachweisen muss, ob und wie er verfolgt wird, halte ich für ein Unding. Das wäre, als hätte man einen flüchtigen Juden, Polen oder Roma in der Nazi-Zeit gefragt: "Wie genau bist Du persönlich verfolgt worden?" Und bei fehlendem Nachweis hätte man sie wieder zurückgeschickt. Das Beispiel zeigt sehr gut, wie absurd unsere heutige Praxis ist. Die meisten Flüchtlinge aus Krisengebieten können die nötigen Papiere schon aus banalen praktischen Gründen nicht bereitstellen. Sie werden dann in Deutschland vorläufig "geduldet", weil man sie aus rechtlichen Gründen nicht abschieben kann, aber zugleich an einer geordneten Integration gehindert.

Wie würden Sie die Asylpraxis denn neu regeln?

Hätten wir ein umfassendes Einwanderungsgesetz, wäre das Asylverfahren sofort entlastet. Es bliebe dann den echten Asylflüchtlingen mit Einzelprüfung und den Gruppenverfolgten vorbehalten. Bei Flüchtlingen aus Kriegsgebieten wiederum müssten andere Gesichtspunkte gelten. Hier ginge es nicht um Einzelfallprüfungen, sondern darum, Menschen in Not aufzunehmen und ihnen hier eine Perspektive zu bieten, sie möglichst schnell zu integrieren, inklusive Arbeitserlaubnis und besonderer Hilfen für Schule und Ausbildung.

Es kommen auch viele Menschen vom Balkan nach Deutschland. Sie stellen neben Syrien, dem Irak und Afghanistan die größte Gruppe. Seit dem vergangenen Jahr stuft die Bundesregierung Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina als sichere Drittländer ein. Halten Sie die Entscheidung für richtig?

Nein, ich halte sie für falsch. Diese Entscheidung hat ein Signal in umgekehrter Richtung ausgesendet: Viele Menschen mit schlimmen Erfahrungen haben sich im Zuge dieser Debatte erst recht auf die Socken gemacht. Weil sie Angst hatten, bald überhaupt nicht mehr von dort nach Deutschland kommen zu können, zumindest solange es kein Einwanderungsgesetz gibt - also schnell, schnell noch losgezogen sind.

Sind das Ihre einzigen Bedenken gegen die neue Regelung?

Außerdem halte ich es für grundfalsch, die Frage, ob ein Land rechtsstaatlich abgesichert ist, an die Zahl der Flüchtlinge hierzulande zu knüpfen. Das kann nicht das Kriterium sein. Sondern die Antwort darauf muss sich ausschließlich danach richten, ob ein Land tatsächlich im rechtsstaatlichen Sinne sicherer geworden ist oder nicht. Serbien, um ein Beispiel herauszugreifen, ist kein Rechtsstaat. Das belegen die Berichte des Helsinki-Komitees, aus denen klar hervorgeht, was sich in den vergangenen Jahren dort alles verschlechtert hat. Die Justiz dort ist nicht unabhängig, sondern Handlanger politischer Interessen. Ein solches Land als sicheres Herkunftsland einzustufen, ist eine Politik, die auf Dauer zum Scheitern verurteilt ist.

Soll in Sachen Flüchtlingen auch Militär zum Einsatz kommen?

Alles, was Menschenleben rettet, ist gut.

Friederike Bauer

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