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Ungewisse Situation: Ein Flüchtling wartet auf der Insel Chios.

© AFP

Flüchtlinge in Griechenland: Frust auf der Gefangeneninsel

Auf der griechischen Insel Chios zeigt sich der Stillstand des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei. Der Unmut der Migranten und auch der Einheimischen entlädt sich in Gewalt.

Es sollte ein schneller Mechanismus sein, ein Mittel für die Europäer, um das Flüchtlingsproblem loszuwerden. Für die Aboudans ist es ein absurdes System. „Die Interviews sind sinnlos“, sagt Madjib Aboudan, der Vater. Mitte Dezember hat er das dritte. Dieses Mal muss die Familie dafür nach Athen reisen. Das Ergebnis kennt der 46-jährige Syrer bereits: „Sie werden uns sagen, dass wir nicht zu unserem Sohn nach Deutschland können.“ Es heißt dann zurück zum Start für den Unternehmer aus Aleppo und seine Familie. Dann gilt nach sieben Monaten Bürokratie doch das Regelwerk des Flüchtlingsabkommens, das die EU mit der Türkei geschlossen hat.

Die Aboudans waren von Tag eins an dabei, vom Morgen des 20. März, als das Flüchtlingsabkommen in Kraft trat. Da landeten sie mit ihrem Schlauchboot auf Chios. „Es war Pech“, sagt Madjib, der Vater. Von dem Abkommen hatten sie nicht gehört. Sie waren beschäftigt mit der Flucht aus Syrien und der Suche nach einem Schlepper in der Türkei, der sie in ein Boot nach Griechenland setzen würde. Alles ein schlechter Film. Die Aboudans sind keine Familie, die sich vorstellen konnte, einmal in überfüllten Lagern zu leben oder wie beim ersten Versuch von der türkischen Küstenwache festgenommen zu werden.

Rund 11.000 Migranten sitzen in der Ostägäis fest

Das zweite Jahr der großen Flüchtlingskrise in Europa geht als lähmendes Drama zu Ende. Rund 11.000 Migranten sitzen auf den Inseln der Ostägäis vor der türkischen Küste fest. Die Zahl der neu Ankommenden – weniger als 100 am Tag bei normalem Wetter – wird ausgeglichen durch die Abreise anerkannter Asylbewerber und durch die fallweisen Abschiebungen in die Türkei. 27 waren es diese Woche. Immer wieder entlädt sich die Frustration über die scheinbar endlos langsamen Asylverfahren in Gewalt. Nahezu täglich wird in den Lagern gestritten und gekämpft zwischen Afghanen, Syrern, Irakern. Aber auch unter den griechischen Inselbewohnern greift der Unmut über die Flüchtlinge um sich, die nicht mehr weggehen – ausgenutzt von den Faschisten der Partei Goldene Morgenröte. Auf Lesbos sind dieser Tage Gräber ertrunkener Flüchtlinge geschändet worden. Auf Chios hat ein rechtsgerichteter Mob das improvisierte Flüchtlingslager in der Altstadt angegriffen und Zelte niedergebrannt.

Syrische Flüchtlinge in einem Schlauchboot werden bei dem Versuch die griechische Insel Chios zu erreichen von einem Scheinwerfer des türkischen Küstenwachtschiffes «UMUT» angestrahlt.
Syrische Flüchtlinge in einem Schlauchboot werden bei dem Versuch die griechische Insel Chios zu erreichen von einem Scheinwerfer des türkischen Küstenwachtschiffes «UMUT» angestrahlt.

© dpa

Die Flüchtlingskrise habe die Gemeinschaft auf der Insel vergiftet, sagt Manoulis Vournous, der Bürgermeister von Chios, ein schlanker 44-jähriger Mann. Der Hotspot auf Chios, das Internierungslager, ist längst zu einer halb offenen Anstalt geworden, wo die Flüchtlinge ein- und ausgehen können. Die Einheimischen auf Chios aber, so erklärt der Bürgermeister, haben nun das Gefühl, ihre Insel sei zu einem großen Gefängnis umgewandelt worden. Eine neue Etappe der Flüchtlingskrise hat begonnen. „Man kann mit einem solchen Notstand vielleicht eine Woche leben, aber es sind nun fast zwei Jahre, und wir sehen kein Ende, keinen Weg, wie diese Krise gelöst würde“, sagt Vournous.

Die Aboudans wurden nach der ersten Revolte im Hotspot auf Chios zusammen mit anderen nach Leros gebracht, eine kleinere Nachbarinsel. Später zogen Vater, Mutter, die beiden Töchter, zehn und 16 Jahre alt, in ein Haus. Die Familie hatte im September – ein halbes Jahr nach der Ankunft in Griechenland – eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für die Zeit des Asylverfahrens erhalten. Die Eltern fanden Arbeit bei zwei NGOs; zumindest die jüngere Tochter besucht einen Unterricht, den freiwillige Helfer organisieren. Für Luna, die ältere, gibt es nichts. Madjid, der in Aleppo eine Fabrik für Gardinen besaß, grämt sich. „Wir sind wegen unserer Kinder geflohen. Wir wollten ihnen ein besseres Leben geben.“

Die Berufungskomitees entschieden häufig, dass die Türkei kein sicherer Drittstaat sei

Die Deportationen in die Türkei werden wohl wieder beginnen, vermuten Experten. Das linksregierte Griechenland mit seiner humanistischen Position werde dem Druck am Ende nicht widerstehen können. Aber dann wiederum war es die Regierung von Alexis Tsipras, die erst kürzlich die Berufungskomitees in den Asylverfahren geändert und die Vertreter des Nationalen Menschenrechtsausschusses (EEDA) ausgeschlossen hatte. Die Berufungskomitees, so stellte sich heraus, hatten in zweiter Instanz häufig entschieden, dass die Türkei kein sicherer Drittstaat sei. Das aber ist die Arbeitsgrundlage, auf der die EU ihren Deal mit Ankara baute: Rücknahme der Flüchtlinge gegen Geld und Visaliberalisierung.

Auch die Aboudans, die eigentlich im Rahmen einer Familienzusammenführung nach Deutschland wollten – sie ist nicht möglich, weil der Sohn nicht mehr minderjährig ist – müssen nun in einem neuen Asylverfahren erklären, warum die Türkei für sie kein sicherer Staat sei. „Es ist unmöglich für mich, das zu beweisen“, sagt der Vater.

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