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Flüchtlingsgipfel in Brüssel: Werden die Balkanländer 100.000 Flüchtlinge aufnehmen?

Die Länder an der Balkanroute sagen zu, 100.000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge zu schaffen. Bisher wurden Beschlüsse oft nicht umgesetzt. Wie realistisch ist nun dieser Plan?

Als sich die Teilnehmer des jüngsten Brüsseler Flüchtlingsgipfels am Sonntag versammelten, sah es anfangs gar nicht nach einem guten Ende aus. Bei dem Treffen der Staats- und Regierungschefs, deren Länder an der Balkanroute liegen, gab es zunächst düstere Prognosen und persönliche Attacken. So sprach etwa Kroatiens Premierminister Zoran Milanovic höhnisch von einem „netten Sonntagsplausch“. Die Flüchtlingskrise, argumentierte Milanovic, müsse in der Türkei und Griechenland gelöst werden. Der griechische Premier Alexis Tsipras wiederum erklärte, er wolle nur dann seinen Teil zur Lösung der Krise beitragen, wenn auch die Balkanländer einen Teil der Last selbst schultern würden. Umso überraschender war dann das Ergebnis des Brüsseler Mini-Gipfels: Die Länder entlang der Balkanroute sagten zu, insgesamt zusätzlich 100 000 Aufnahmeplätze für die Flüchtlinge zu schaffen.

Wie kam es am Ende doch noch zu einer Einigung?

Die Basis für die Einigung lieferte Tsipras mit seiner Zusage, bis Jahresende Unterkünfte für 30 000 Migranten zu schaffen: Anschließend sollen weitere 20 000 Aufnahmeplätze mithilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Griechenland entstehen. Die Zusage dürfte Tsipras nicht ganz leicht gefallen sein, denn schließlich kursiert in Hellas der Verdacht, dass Griechenland künftig eine große Zahl von Flüchtlingen beherbergen muss, ohne dass es zu einer Umverteilung kommt. Aber in jedem Fall bildete Tsipras’ Zusage eine Steilvorlage für die weiteren Länder auf der Balkanroute: Sie sagten ihrerseits zu, weitere 50 000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge zu schaffen.

Ganz allgemein sagten die Regierungschefs zu, in ihren Ländern für Notunterkünfte, Nahrung, Wasser und sanitäre wie medizinische Versorgung der Flüchtlinge zu sorgen – wo sie dies nicht leisten können, soll das EU-Katastrophenschutzverfahren eingeleitet werden, wie Kroatien dies am Montag schon getan hat. Das vereinfacht die Lieferung von Zelten, Betten, Heizkörpern oder Arzneimitteln aus anderen EU-Staaten.

Dass am Ende des Mini-Gipfels zumindest auf dem Papier konkrete Schritte zur Schaffung der insgesamt 100 000 Plätze vereinbart wurden, schreibt die EU-Kommission ihrem Verhandlungsgeschick zu. Entgegen ersten Planungen setzte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker die allgemeine Aussprache an den Beginn des Treffens, bei dem es tatsächlich „gegenseitige Schuldzuweisungen und Drohungen“ gab, wie eine EU-Diplomatin berichtet: „Als die Luft sich dann wieder gereinigt hatte, kam ein konsensfähiger Text auf den Tisch.“ Aus einer anderen Quelle hieß es, die politische Verstimmung und die Arbeit an den kurzfristigen Maßnahmen seien „zwei verschiedene Stränge“ gewesen. Die „Sherpas“, die für die Regierungschefs die EU-Gipfel vorbereiten, hätten am Sonntag „schon tagsüber konstruktiv an der Erklärung gearbeitet“. Nach den Worten von Kommissionschef Juncker sollen die insgesamt 100 000 Plätze für Flüchtlinge entlang der Balkanroute „den Strom verlangsamen“.

Für Griechenland war entscheidend, dass für die Unterbringung von mehr Schutzsuchenden Geld fließt. Und auch die Aufnahmelager auf dem Balkan, deren genaue Verteilung auf die Länder erst in den kommenden Wochen ausgearbeitet werden soll, wird vorrangig vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geschultert, das sich aus den Beiträgen aller Mitgliedstaaten speist. „Finanzielle Unterstützung für Griechenland und den UNHCR wird erwartet“, heißt es im Abschlusstext des Gipfels.

Wie wahrscheinlich ist es, dass die Beschlüsse umgesetzt werden?

Garantien, dass die Gelder an das UN-Flüchtlingshilfswerk fließen und die Unterkünfte gebaut werden, gibt es nicht. Auch lässt sich nicht absehen, ob der zentralen Aussage des Mini-Gipfels, wonach die „Politik des Durchwinkens von Flüchtlingen ohne Information des Nachbarstaates inakzeptabel“ ist, wirklich Taten folgen. Juncker gab sich zwar überzeugt, dass der Beschluss befolgt wird, doch gründet der Optimismus allein auf dem vereinbarten Informationsaustausch. Dazu sollten die beteiligten Regierungschefs noch im Verlauf des Montags hochrangige Ansprechpartner benennen, die „täglichen Austausch und Koordination“ ermöglichen sollen. Einmal wöchentlich sollen sich alle Koordinatoren mit der EU-Kommission kurzschließen und den Fortschritt bewerten – der erste Termin ist am Donnerstag.

Unsicher ist auch, wie schnell ein weiterer Gipfelbeschluss umgesetzt wird: 400 Polizisten sollen nach Slowenien entsandt werden, um die Lage unter Kontrolle zu bringen – doch andere Länder warten ebenfalls noch auf zugesagte Grenzschützer. Das könne „nicht heute früh oder morgen“ umgesetzt sein, sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU), doch sei das Treffen „ein Baustein“ zur Lösung der Krise gewesen; „Viele weitere Schritte“ müssten folgen.

Was aus bisherigen Beschlüsse geworden ist

Inwieweit sind die bisherigen EU-Pläne in der Flüchtlingskrise bereits umgesetzt?

Als ein wichtiges Element zur Lösung der Flüchtlingskrise gilt die Umverteilung von insgesamt 160 000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien auf andere EU-Länder. Zunächst hatte sich ein EU-Gipfel im Juni auf die Verteilung von 40 000 Schutzsuchenden geeinigt. Ende September verständigten sich die EU-Innenminister nach heftigen Diskussionen dann darauf, weitere 120 000 Flüchtlinge nach festgelegten Quoten in anderen EU-Ländern umzuverteilen – gegen den Widerstand Ungarns, Tschechiens, der Slowakei und Rumäniens. Das Umverteilungsprogramm, das über zwei Jahre läuft, ist bisher sehr schleppend angelaufen: Nach bisherigem Stand hat Finnland 48 Flüchtlinge aus Italien aufgenommen; 38 Migranten aus Italien wurden nach Schweden umverteilt.

Beim EU-Gipfel am 23. September wurden die europäischen Mitgliedstaaten zudem aufgefordert, zu erklären, wie viele Flüchtlinge aus Italien und Griechenland sie im Rahmen des Umverteilungsprogramms möglichst schnell aufnehmen können. Auch hier ist der Rücklauf aus den einzelnen Ländern bislang spärlich. Nach einer Aufstellung der EU-Kommission haben bislang neun Mitgliedstaaten mitgeteilt, dass sie insgesamt 854 Flüchtlinge aus den beiden Mittelmeerländern aufnehmen können: Belgien, Finnland, Deutschland, Frankreich, Litauen, Luxemburg, Portugal, Spanien und Schweden. Die meisten Plätze – 300 – kann der Aufstellung zufolge Schweden in unmittelbarer Zukunft zur Verfügung stellen.

Erwartet wird von Europas Mitgliedstaaten auch, dass sie die EU-Grenzschutzagentur Frontex stärker als bisher mit Personal unterstützen. Anfang Oktober forderte die Grenzschutzagentur bei den EU-Ländern 775 Beamte an, die in erster Linie in Italien und Griechenland bei der Registrierung und Identifizierung von Flüchtlingen helfen sollen, die über die Ägäis oder aus Libyen nach Europa gelangt sind. Nach gegenwärtigem Stand haben die Mitgliedsländer lediglich 291 Beamte zur Verfügung gestellt.

Nur langsam kommt auch der Aufbau eines europäischen Grenzschutzes voran, den zunächst EU-Kommissionschef Juncker bei einer Rede vor den Europaabgeordneten in Straßburg Anfang September angeregt hatte. Vor einem EU-Gipfel Mitte Oktober hatte auch Frankreichs Präsident François Hollande ein Papier vorgelegt, in dem die Bildung eines eigenen EU-Küstenschutzes ins Spiel gebracht wurde. Vor Jahresende will die EU-Kommission nun einen Vorschlag für ein europäisches Grenz- und Küstenschutzsystem vorlegen.

Spätestens im Dezember soll auch das Mandat von Frontex so ausgeweitet werden, dass die Agentur zusätzliche Möglichkeiten zur Abschiebung von Flüchtlingen erhält. So hatte es der EU-Gipfel Mitte der Monats auch beschlossen: Frontex soll künftig in die Lage versetzt werden, auf eigene Initiative gemeinsame Abschiebeflüge mehrerer Mitgliedstaaten zu organisieren. Dazu soll bei der EU-Grenzschutzagentur bis Jahresende eine eigene Rückkehrabteilung gegründet werden.

Wie kommen die Gespräche über Finanzhilfen für die Türkei voran?

Als sich die Staats- und Regierungschefs der EU Mitte des Monats beim Gipfel trafen, war offen geblieben, in welcher Höhe Ankara von der EU finanziell unterstützt werden soll. Die geplante Vereinbarung sieht so aus, dass das Land am Bosporus im Gegenzug weitere Flüchtlingslager errichtet.

Allerdings gehen die Vorstellungen über den Umfang der Finanzhilfen zwischen Ankara und den EU-Partnern auseinander. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan stellte sich auf den Standpunkt, dass die von den Europäern angebotene Summe von einer Milliarde Euro bereits in den sogenannten Vorbeitrittshilfen enthalten ist, auf welche die Türkei als EU-Beitrittskandidat ohnehin Zugriff hat. Stattdessen fordert Erdogan „frisches“ Geld in Höhe von bis zu drei Milliarden Euro. Die EU-Kommission hat bereits angekündigt, dass dabei 500 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt bereitgestellt werden können. Die restliche Summe von maximal 2,5 Milliarden Euro müssen nun die europäischen Mitgliedstaaten aufbringen. Bis Dezember erwartet die Kommission eine Aufstellung aus den Mitgliedsländern, wer in welchem Umfang Ankara bei der Flüchtlingshilfe unterstützt.

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