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Flüchtlingsstrom aus Syrien in die Türkei: Wenn es Waffen gäbe

Sie waren Bauern, Kraftfahrer, einfache Leute. Dann begann Präsident Assad in Syrien, Krieg gegen sein Volk zu führen, und machte sie zu Oppositionellen. Ihnen blieb nur die Flucht in die Türkei. Dort leben sie in Lagern nahe der Grenze. Sie würden sofort zurückkehren.

Abdulkadir Fayzi sieht nicht wie jemand aus, vor dem sich ein Diktator fürchten müsste, auch einer wie Baschar al Assad in Damaskus nicht. Fayzi, 34 Jahre alt, ist Bauer. Er trägt das grobe Hemd eines Landarbeiters und hat die kräftigen Hände eines Mannes, der von der Erde lebt. Nun verschränkt er sie hinter dem Rücken, bevor er spricht. Sie halten eine Zigarette, an der er zuweilen gemächlich zieht. Doch seine Bedächtigkeit weicht kalter Wut, wenn er darüber redet, was Assads Truppen in Syrien getan haben. „Die bringen Kinder um, einfach so“, sagt er.

Deshalb hat Fayzi, Vater zweier Kinder, seine Familie hierher gebracht, ins Flüchtlingslager Reyhanli auf der türkischen Seite der Grenze. Deshalb schleicht er sich immer wieder nach Syrien hinein, um Freunde und Bekannte nachzuholen, auf Pfaden, die nur wenige kennen und die nicht von den syrischen Truppen überwacht werden. Und deshalb hofft er wie alle hier auf einen baldigen Sturz Assads. „Noch drei oder vier Monate, so Gott will“, sagt Fayzi, werde es wohl dauern. „Jetzt kriegt ja auch die Opposition allmählich Waffen.“

Fotoreporter Rodrigo Abd berichtete heimlich aus der Provinz Idlib

Es hat sich eine Menschentraube um Fayzi gebildet. Im Prinzip wissen die Umstehenden hier im Lager in Reyhanli, was Fayzi sagen wird, sie stimmen begeistert zu, jeder hier denkt so wie er. Es sind meist junge Männer, die in Syrien auf dem Bau arbeiteten, einen Lastwagen fuhren oder wie Fayzi ihre Felder beackerten. Vor einem Jahr, als Assad Krieg zu führen begann gegen das eigene Volk, waren Fayzi und seine Freunde keine politisierten Oppositionellen. Sie waren ganz normale Leute, die sich plötzlich der rücksichtslosen Gewalt des Regimes ausgesetzt sahen. Das trieb sie in die Flucht.

Fast alle kommen aus der Provinz Idlib unmittelbar jenseits der Grenze, einer Hochburg des Widerstandes gegen Assad, die in den letzten Wochen den Zorn des Regimes zu spüren bekam. Assads Truppen belagerten und stürmten die Provinzhauptstadt Idlib, die nur leicht bewaffneten Kämpfer der Opposition zogen sich in der Berge zurück, wo sie jetzt den Gegenangriff planen.

Der Maurer Malek Hacisüleyman beschloss zu fliehen, als er merkte, dass man nicht zur Opposition gehören muss, um von Assads Schergen getötet zu werden. „Ich habe einen Mann gesehen, der ging einfach nur die Straße runter, da wurde er erschossen“, sagt Hacisüleyman. „Und dann feuerten die Panzer auf unsere Häuser.“ Im vergangenen Jahr war das. Da packte er seinen kleinen Sohn und seine damals schwangere Frau und floh in die Türkei. Seitdem ist er hier in Reyhanli, seine kleine Tochter wurde auf türkischem Boden geboren.

16.000 Menschen sollen bislang in die Türkei geflohen sein

Dabei hat Hacisüleyman noch Glück gehabt, denn er und seine Familie entkamen unverletzt. Der 35-jährige Halid Allawi dagegen geht neun Monate nach seiner Flucht immer noch auf Krücken. Fünfmal wurde er, an den Beinen und am Oberkörper, bei Auseinandersetzungen von Kugeln getroffen, er verdankt sein Leben einigen Soldaten der Oppositionstruppen, die ihn in die Türkei brachten. Abdülkerim Kürdü, ein Arbeiter aus Idlib, zeigt eine Wunde an seinem rechten Oberschenkel, wo es ihn vor einem Monat erwischte. Beide Männer wurden in Krankenhäusern der türkischen Grenzprovinz Hatay behandelt, zu der Reyhanli gehört.

Das Lager in Reyhanli wächst beständig. Es ist eines von einem halben Dutzend Flüchtlingslagern, die von den türkischen Behörden an der Grenze eingerichtet worden sind und die in den vergangenen Wochen einen Ansturm von Flüchtlingen erlebt haben. 16.000 Menschen sollen es bislang sein. In Reyhanli planieren Bulldozer Flächen für weitere Zelte des Türkischen Roten Halbmondes und des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR. Ein türkischer Elektriker verlegt Stromleitungen. „Vor einem Monat waren hier gerade mal 1300 Leute“, sagt ein Mann von der Lagerleitung, der nicht genannt werden will. „Jetzt sind es 4000.“ Doch allmählich wird es eng in den Zeltgassen. „Wir sind voll“, sagt der Mann.

Fotos von den gewaltsamen Auseinandersetzungen in Syrien

Zwischen den weißen Notunterkünften sind Wäscheleinen gespannt. Es gibt eine Moschee mit Lautsprechern für die Gebetsrufe, ein Postamt, eine Müllabfuhr und eine Schule, in der die Kinder auf Arabisch und Türkisch unterrichtet werden, sowie etliche Satellitenschüsseln. Hin und wieder können sich Männer wie Fayzi als Helfer bei den Bauern in der Umgebung ein paar Lira verdienen. Mit einem türkischen Sonderausweis ist es ihnen gestattet, sich außerhalb des Lagers zu bewegen.

Der Türkische Rote Halbmond rechnet mit bis zu einer halben Million Syrer, die ins Land kommen könnten. Sorgen macht den Türken vor allem, dass die Gebiete in Nordwestsyrien, die lange relativ ruhig waren, allmählich in den Aufstand hineingezogen werden. Das gilt hauptsächlich für die Wirtschaftsmetropole Aleppo, mit mehr als zwei Millionen Einwohnern die größte Stadt Syriens.

Ankara denkt deshalb unter anderem über die Einrichtung einer Schutzzone für Flüchtlinge auf syrischem Gebiet nach, ein Plan, der von den Flüchtlingen in Reyhanli begeistert begrüßt wird. Mit einer solchen Zone, die nicht nur Schutz für Zivilisten, sondern auch für fluchtwillige Soldaten bieten würde, wäre Assad bald erledigt, sagen sie.

„99 Prozent der Soldaten wollen fliehen, aber sie haben Angst“, sagt Mustafa Abdilhamit Shaban. Bis letzte Woche gehörte er selbst noch zu Assads Armee, als Fahrer einer Militärambulanz in Idlib. Doch dann setzte er sich von der Truppe ab und kam in die Türkei. „Die griffen einfache Dörfler an“, berichtet Shaban. Da wollte er nicht mehr mitmachen.

Nun träumt er wie viele Männer in Reyhanli davon, mit der Waffe zurückzukehren. „Schickt uns eure Armeen nach Syrien oder gebt uns Waffen, dann gehen wir selber“, sagt der Maurer Hacisüleyman unter zustimmenden Rufen seiner Freunde aus dem Lager. Auch Deserteur Shaban sagt, er würde sich sofort dem Widerstand anschließen. „Wenn ich nur ein Gewehr hätte.“

Die Freie Syrische Armee (FSA), die aus Deserteuren gebildete Oppositionstruppe, die gegen Assads Einheiten kämpft, hat viele Bewunderer in Reyhanli. Neun Generäle der syrischen Armee sind inzwischen in die Türkei geflohen, neben vielen anderen Offizieren und einfachen Soldaten. Hinzu kommen Einheiten, die in Syrien geblieben sind. Dass die Deserteure nach ihrer Flucht auf türkischem Boden eine Rebellenarmee gründen durften, hat damit zu tun, dass Ankara sich seit Beginn des Aufstandes von einem Freund Assads zu einem erbitterten Feind gewandelt hat. Doch Waffenlieferungen an die Rebellen lehnt die türkische Regierung bisher ab, aus Sorge um eine nicht mehr zu beherrschende Eskalation beim Nachbarn. Schon jetzt warnt Human Rights Watch vor bestialischen Racheakten der Rebellentruppen. Es lägen Videodokumente vor, nach denen Aufständische regimetreue Soldaten und Polizisten gefoltert und hingerichtet hätten. In anderen Fällen seien Regierungsanhänger oder deren Angehörige von Freischärlern entführt worden, um Lösegeld zu erpressen.

Trotz solcher Anzeichen einer Eskalation ließ sich ein arabischer Diplomat vor wenigen Tagen mit dem Satz zitieren, Saudi-Arabien habe mit der Lieferung von Waffen begonnen, die über Jordanien an die FSA gehen sollten. Die Rebellentruppen brauchen, so sagen sie, vor allem schwere Maschinengewehre, Panzerfäuste und schultergestützte Raketenwerfer.

Nach eigenen Angaben hat die FSA derzeit 50.000 bis 60.000 Soldaten unter ihrem Kommando. Nachprüfen kann das niemand, aber die Tatsache, dass immer mehr hochrangige Soldaten zur Opposition überlaufen, ist ein Zeichen dafür, dass der Unmut in den Reihen der Regierungstruppen zunimmt. Auch von den Syrern, die nicht zur Armee gehören, verliert offenbar eine wachsende Zahl das Vertrauen in Assad. Unter der Hand berichten türkische Behördenvertreter, dass sich Bauinvestitionen im Grenzgebiet im vergangenen Jahr stark erhöht haben: Das Geld komme von Syrern, die ihr Vermögen außerhalb des Landes anlegen wollten.

Religiöse Untertöne färben den Konflikt in Syrien immer stärker ein

Für die Flüchtlinge in Reyhanli sind solche Nachrichten hochwillkommene Hoffnungszeichen. Viele von ihnen haben Verwandte in Syrien, von denen sie seit Wochen oder Monaten nichts mehr gehört haben. Es gibt ein paar Männer im Lager, die wie der Bauer Fayzi von Zeit zu Zeit nach Syrien zurückgehen. Er habe erst kürzlich vier Offiziere der Armee über die Grenze geschleust, berichtet einer von ihnen. Seinen Namen will er nicht nennen, weil er befürchtet, dass die syrischen Behörden herausbekommen könnten, wer er ist. Einige Syrer in den türkischen Lagern sind überzeugt, dass sich Agenten Assads unter die Flüchtlinge gemischt haben. Vor einigen Tagen mussten türkische Soldaten eine Menge mit Schüssen in die Luft zerstreuen. Die wütenden Flüchtlinge wollten einen angeblichen Spion lynchen.

Wie unübersichtlich die Lage ist, verdeutlicht die Sorge Ethem Selcuks. Der Gewürzhändler im Basar von Antakya, der Hauptstadt der Grenzprovinz Hatay, hat wie viele Türken in dieser Gegend etliche syrische Verwandte. Hatay gehört erst seit einer Volksabstimmung 1938 zur Türkei. Die damalige Grenzziehung trennte viele Familien. Sie hielten dennoch über die Jahre den Kontakt. Es ist üblich in Antakya, dass die Menschen neben Türkisch noch perfekt Arabisch sprechen.

„Wir haben Verwandte in Aleppo und in Idlib, aber wir haben schon lange nichts mehr von ihnen gehört“, sagt der Händler Selcuk. Einige seiner Angehörigen brachten sich im vergangenen Jahr vorübergehend in einem türkischen Lager in Sicherheit, gingen dann aber nach Syrien zurück, als sich die Lage etwas zu stabilisieren schien. Nun können sie, vermutet der Händler, nicht mehr aus dem Land.

Sorgen macht sich Selcuk auch darüber, dass religiöse Untertöne den Konflikt in Syrien immer stärker einfärben, einem Land mit einer sunnitischen Bevölkerungsmehrheit, das von einer alevitischen Elite regiert wird. In so einer brandgefährlichen Situation über einen bewaffneten Kampf zu sprechen, erscheint ihm wahnsinnig.

In der ganzen Gegend lebten Menschen verschiedener Religionen schon seit jeher zusammen, ob das nun in Syrien sei oder hier in Antakya. „Schauen Sie“, sagt Selcuk und deutet auf die Angestellten seines Ladens. „Hier haben wir eine Alevitin, dort eine Araberin, der dahinten ist Kurde. Mein Nachbar einen Laden weiter ist Christ. Jeden Freitag, wenn ich in die Moschee gehe, bewacht der meine Kasse. So ist das bei uns.“

Für viele in Antakya und in den Flüchtlingslagern ist ein friedliches Zusammenleben aber erst wieder nach einer Entmachtung von Assad möglich. „Ich habe die Leute dort gesehen, die haben Hunger, da gibt es nichts mehr“, sagt Ahmet, ein türkischer Lastwagenfahrer. Er ist mit einer Syrerin verheiratet. Bis vor kurzem fuhr er noch regelmäßig ins Nachbarland. Seine Schwiegermutter sitzt mit zwei Söhnen in Damaskus fest. Selbst als sie noch ans Telefon ging, sprach sie nur über Belangloses, aus Angst, dass der Geheimdienst mithörte. Ahmets Schwägerinnen konnten in die Türkei fliehen. Eine lebt nun mit ihrem Mann im Lager Reyhanli, die andere bei Ahmet und seiner Frau.

Vor zwei Wochen war Ahmet das letzte Mal in Syrien. Dieselben syrischen Zollbeamten, die ihn von seinen vielen Fahrten vorher gut kannten und immer mit ihm scherzten, taten plötzlich so, als hätten sie ihn noch nie gesehen.

„Irgendeiner muss eingreifen.“ So stellt sich Ahmet die Lösung vor. Auf der anderen Seite der Grenze seien ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht worden. „Die Opposition hat ja kaum Waffen.“ Da fällt seine Frau Ayse, die geschwiegen hat, während Ahmet sprach, ihrem Mann plötzlich aufgeregt ins Wort. „Wenn es Waffen gäbe“, sagt sie, „dann würde ich auch zurückgehen und kämpfen.“

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