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Die Leiche eines Flüchtlings wird am Hafen von Lampedusa abtransportiert.

© dpa/parinello

Flüchtlingstragödie vor Lampedusa: "Jetzt geht das Sterben wieder los"

Bei den Schiffsunglücken vor Lampedusa starben erneut hunderte Flüchtlinge. Kritik an europäischem "Frontex"-Einsatz wird lauter- die zuständigen Schiffe waren zum Zeitpunkt der Katastrophe tanken.

29 Tote hatte man noch am Montag gezählt, mittlerweile gehen italienische Behörden und Hilfsorganisationen von 300 bis 400 aus. Alles Flüchtlinge. Jeder von ihnen gestorben beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Italien erlebt seine nächste humanitäre Katastrophe. Die Proteste gegen die „Grenzsicherung“ durch die Grenzschutzagentur Frontex („Operation Triton“) werden derweil immer wütender.

Der erste Notruf war am Sonntagnachmittag per Satellitentelefon in Italien eingegangen. Weil sich die beiden einzigen „diensthabenden“ Hochseeschiffe der gemeinsamen europäischen „Operation Triton“ zum Tanken im Hafen befanden, kämpften sich von Lampedusa aus zwei kleine Boote der italienischen Küstenwache in Richtung Libyen vor. Seestärke acht, Wellen so hoch wie ein Wohnhaus. Fünf Stunden brauchten die Mannschaften, unter Lebensgefahr für sich selbst – und dann konnten sie nur noch beschränkt helfen: Auf der ohne Motor vor sich hintreibenden Barke waren schon sieben Menschen gestorben, und für 22 andere gab es auch keine Rettung mehr. Geschwächt vom zweitägigen Treiben im Eiswind erfroren sie noch auf den Booten der Küstenwache. Beheizte Kabinen haben auch diese nicht zu bieten.

Zwei Handelsschiffe – mehr waren wegen des außergewöhnlich harten Winterwetters gar nicht in der Nähe – retteten zwei weitere Barken, konnten aber nur neun Überlebende bergen. Die anderen, erzählten diese Männer, seien alle schon tot. Mittlerweile weiß man aus Berichten der Überlebenden, dass am Samstag sogar vier Boote von Libyen aus aufgebrochen sind, „aufbrechen mussten“, wie die Geretteten erzählen: mit Gewalt gedrängt von den Schleusern, jedes Schlauchboot besetzt mit knapp hundert Flüchtlingen, die meisten aus der Subsahara.

Frontex investiert nur ein Drittel

Der Aufschrei in Italien ist einhellig: Da hatte dieses Land – seit der Lampedusa-Tragödie mit 366 Toten im Oktober – eine riesige Organisation zur Verhinderung weiterer Katastrophen im Mittelmeer geschaffen, große Kriegsschiffe der Marine bis vor die Küsten Libyens und Tunesiens patrouillieren lassen, zehntausende Menschen aus dem Wasser gezogen. Dann, nach einem Jahr und monatlichen Kosten von neun bis zehn Millionen Euro, hatte das Land – nachdem es keine weitere finanzielle Unterstützung der EU bekam – „Mare Nostrum“ aufgegeben und alles an die europäische Grenzschutzbehörde „Frontex“ abgetreten.

Die investiert für ihre „Operation Triton“ allerdings nur drei Millionen Euro pro Monat. Die Aktion hat nicht mehr den expliziten Auftrag, Flüchtlinge zu retten, sondern nur noch – innerhalb der 30-Meilen-Zone europäischer Hoheitsgewässer bleibend – „die Grenzen zu sichern“. Und schon, so sagen Politiker, Kirchen und Hilfsorganisationen, „geht das Sterben wieder los“. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR warf der Europäischen Union mangelnde Bemühungen um Seenotrettung vor. „Die Rettung von Leben sollte unser wichtigstes Anliegen sein“, sagte der UNHCR-Verantwortliche für Europa, Vincent Cochetel.

„Wir wollen Touristen hier und keine Leichen!“

Widerlegt sieht Italien auch die Kritik an seinem „Mare Nostrum“. Von nördlich der Alpen, auch aus Brüssel, hatte man immer kritisiert, die „Aussicht auf sichere Rettung“ durch italienische Marineschiffe stelle eine Einladung, ja geradezu eine Aufforderung an Schleuser dar, Flüchtlinge loszuschicken. Seit dem 1. November ist „Mare Nostrum“ beendet – und dennoch ist die Zahl der „Boat People“ weiter gestiegen. Mehr als 3800 waren es seit Jahresanfang, eineinhalb mal so viele wie unter „Mare Nostrum“ ein Jahr zuvor.

„Wir wollen Touristen hier und keine Leichen!“, forderte Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin auf Lampedusa, in italienischen Medien. „,Triton‘ ist ein Polizeieinsatz, so, als ginge es gegen einen bewaffneten Angriff, aber auf dem Meer ist eine große humanitäre Katastrophe im Gange. Dagegen braucht es andere Mittel.“ Zahlreiche Abgeordnete in Rom fordern die Rückkehr zu „Mare Nostrum“ – „ob die anderen europäischen Länder wollen oder nicht, ob es uns Stimmen bringt oder nicht“, wie der frühere Regierungschef Enrico Letta per Kurznachrichtendienst Twitter erklärte. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl forderte die sofortige Einrichtung eines zivilen europäischen Seenotrettungsdienstes.

Auch Papst Franziskus plädierte für verstärkte Rettungsanstrengungen im südlichen Mittelmeer. Er bete für die Opfer, sagte er bei der wöchentlichen Generalaudienz auf dem Petersplatz. Überdies rief er zu Solidarität mit den Flüchtlingen auf, damit es niemandem an der nötigen Hilfe mangele.

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