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Bundespräsident Joachim Gauck appelliert an die Europäische Union, die Flüchtlingspolitik humaner zu gestalten.

© dpa

Update

Flüchtlingsunglück vor Lampedusa: Gauck: Europas Flüchtlingspolitik muss humaner werden

Am Tag nach dem Schiffsunglück mit mehr als 130 Ertrunkenen vor Lampedusa fordert Bundespräsident Gauck besseren Schutz für Flüchtlinge. Man dürfe nicht wegschauen und sie in einen vorhersehbaren Tod hineinsegeln lassen. Auch die Uno kritisiert die EU-Politik.

Bundespräsident Joachim Gauck hat angesichts des Flüchtlingsdramas vor Lampedusa an die Europäische Union appelliert, Flüchtlingen einen besseren Schutz angedeihen zu lassen. Leben zu schützen und Flüchtlingen Gehör zu gewähren, seien wesentliche Grundlagen der Rechts- und Werteordnung, sagte Gauck am Freitag bei der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland in Berlin. „Zuflucht Suchende sind Menschen - und die gestrige Tragödie zeigt das - besonders verletzliche Menschen. Sie bedürfen des Schutzes. Wegzuschauen und sie hineinsegeln zu lassen in einen vorhersehbaren Tod, missachtet unsere europäischen Werte“, sagte der Bundespräsident laut Redemanuskript.

Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, Tom Koenigs, warf der EU Untätigkeit vor. Diese dürfe sich nicht darauf konzentrieren, nur die Grenzen zu schützen, sagte der Grünen-Politiker im NDR. Er forderte, Institutionen zu schaffen, die die Seenotrettung organisieren. Außerdem müssten Schlepper stärker bestraft werden. Auch die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl forderte offene Fluchtwege und die Öffnung der Grenzen.

Unions-Fraktionsvize Günter Krings (CDU) sagte, die Tragödie mache nachdenklich. „Wir müssen dahin kommen, dass sich Flüchtlinge erst gar nicht in solche lebensgefährliche Situationen begeben.“ Die EU sei ebenso wie die Afrikanische Union gefordert, den Menschen in Afrika eine Perspektive für ihr Leben zu bieten.

Amnesty International forderte von Deutschland ein stärkeres Engagement für die Flüchtlinge. Nach Jahren der Abschottungspolitik müsse sich die Bundesregierung nun entschieden mehr für Solidarität in der EU Flüchtlingspolitik einsetzen, sagte der Direktor des Europabüros von Amnesty International, Nicolas Berger, der dpa. „Die Bundesregierung darf nicht zusehen, wie weiter Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen sterben und Asylsuchenden ein faires Verfahren verweigert wird.“

Uno: "Diese Toten hätten vermieden werden können"

Auch der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Migranten, François Crépeau, kritisierte die europäische Einwanderungspolitik. „Diese Toten hätten vermieden werden können“, sagte Crépeau am Donnerstag vor der UN-Vollversammlung in New York. Die illegale Einwanderung könne nicht „ausschließlich mit repressiven Maßnahmen“ bekämpft werden, sagte der kanadische Jurist. Dieses Vorgehen verstärke nur die Macht der Schleuser.

Crépeau rief die Staatengemeinschaft dazu auf, die Möglichkeiten für eine legale Einwanderung auszubauen. Sanktionen müssten nicht die Flüchtlinge treffen, sondern beispielsweise die Arbeitgeber, die illegale Einwanderer beschäftigten. Dies werde jedoch aus „politischen Beweggründen“ unterlassen. In den Aufnahmeländern müsse die „Vorstellung von Vielfalt und Multikulturalität“ akzeptiert werden.

EU-Kommission: Wir müssen die Lage verbessern

Mit Bestürzung hat die EU-Kommission auf das tödliche Drama reagiert. „Es ist wirklich eine Tragödie, ganz besonders, weil auch Kinder betroffen sind“, erklärte EU-Regionalkommissar Johannes Hahn in Brüssel. „Es ist etwas, über das Europa wirklich traurig sein muss und wir sollten sehen, wie wir die Lage verbessern“, sagte er.

Der Europarat hat ein konkretes Engagement der Europäer gefordert, um derartige Tragödien in Zukunft zu verhindern. „Nach diesem entsetzlichen Drama appelliere ich dringend an die Mitgliedsländer, sich konkret zu engagieren“, sagte am Donnerstag in Straßburg der französische Präsident der parlamentarischen Versammlung des Europarates, Jean-Claude Mignon.

Europarat: Italien soll Einwanderungspolitik ändern

Die Abgeordneten der 47 Europaratsländer hatten zuvor in einem Berichtsentwurf des Migrationsausschusses Italien aufgefordert, eine entsprechende Einwanderungspolitik zu entwickeln. Dazu gehöre die Identifizierung und Registrierung von illegalen Einwanderern, Asylsuchenden und Flüchtlingen, hieß es. Die Regierung in Rom sollte sicherstellen, dass Menschen, die illegal nach Italien einwanderten, nicht in andere Europaratsländer weiterreisen könnten.

Neapolitano: Entsprechen die Gesetze Menschlichkeit und Solidarität?

Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano eine Überprüfung der Gesetzeslage gefordert. Normen, die eine Aufnahmepolitik verhinderten, sollten geändert werden, sagte er nach Angaben der italienischen Nachrichtenagentur Ansa in einem Interview mit Radio Vatikan. Die Gesetze müssten Italien würdig sein und den Grundprinzipien von Menschlichkeit und Solidarität entsprechen.

Bei der Schiffskatastrophe starben am Donnerstag mindestens 133 Flüchtlinge. Die Zahl der Opfer könnte weiter steigen, da zahlreiche Menschen noch im Mittelmeer vermisst wurden, wie italienische Medien berichteten.
Die italienische Marine unterstützt die Such- und Bergungsarbeiten. Die Korvette „Chimera“ habe Kurs auf die Unglücksstelle genommen, teilte die Marine mit, wie Ansa am Donnerstagabend meldete. Auch das Patrouillenboot „Cassiopea“ sei mit Tauchern unterwegs, um die Bergungsarbeiten zu unterstützen.

Das Boot mit etwa 500 Menschen aus Nordafrika an Bord hatte im Mittelmeer vor der Nachbarinsel Isola dei Conigli Feuer gefangen und war dann gekentert. 155 Menschen konnten von der Küstenwache in Sicherheit gebracht werden, andere versuchten, sich selbst über Wasser zu halten.

Berichten zufolge sollen einige Migranten auf dem Schiff eine Decke angezündet haben, um dadurch ein Fischerboot in der Nähe auf sich aufmerksam zu machen. Das Feuer breitete sich aus, das Schiff kenterte. Das tunesische Innenministerium teilte der Nachrichtenagentur dpa mit, das Boot sei in Libyen aufgebrochen und auf seinem Weg nach Lampedusa an der tunesischen Hafenstadt Sfax vorbeigefahren. Die Flüchtlinge sollen überwiegend aus Somalia und Eritrea stammen. Sie waren nach Angaben von Geretteten vor zwei Tagen in der libyschen Hafenstadt Misrata gestartet.

Bürgermeisterin von Lampedusa: Es war der Horror

Leichensäcke im Hafen von Lampedusa.
Leichensäcke im Hafen von Lampedusa.

© Reuters

Bewegende Fernsehbilder zeigten, wie Rettungsteams in dem kleinen Hafen von Lampedusa eingehüllte Leichen nebeneinander aufbahrten. „Unglücklicherweise brauchen wir keine Krankenwagen mehr, sondern Särge“, berichtete der örtliche Arzt Pietro Bartolo. „Es ist ein Horror“, sagte Bürgermeisterin Giusi Nicolini nach dem zweiten Flüchtlingsdrama innerhalb weniger Tage. „Sie hören nicht auf, weitere Leichen zu bringen.“

Innenminister Angelino Alfano reiste nach einem Treffen mit Regierungschef Enrico Letta nach Lampedusa, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Letta bezeichnete den Tod der Migranten als „ungeheure Katastrophe“. Die Minister von Alfanos PdL-Partei sagten eine geplante Pressekonferenz ab. Für Freitag wurde in Italien Staatstrauer angeordnet.

„Beten wir für die Opfer des tragischen Schiffbruchs vor Lampedusa“, schrieb Papst Franziskus auf Twitter. Die erneute Flüchtlingstragödie sei eine Schande. Der Papst hatte Lampedusa vor zwei Monaten besucht und auf das Schicksal der Flüchtlinge als Folge einer „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ aufmerksam gemacht.

Die Staatsanwaltschaft eröffnete ein Ermittlungsverfahren, einer der mutmaßlichen Schleuser wurde Medienberichten zufolge bereits festgenommen. „Eine enorme Tragödie, für die es keine Worte gibt“, sagte Vize-Innenminister Filippo Bubbico.

Kurz vor dem Unglück war ein Boot mit 463 Migranten vor Lampedusa angekommen. Bei gutem Wetter versuchen immer wieder Flüchtlinge, die europäischen Küsten zu erreichen. Oft endet die Überfahrt auf den kaum seetüchtigen Booten für einige tödlich. Erst am Montag waren 13 Menschen vor der Küste Italiens ertrunken.

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