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Flug MH17 und die Opfer: Im Chaos zwischen politischer Krise und Missmanagement

Die Bergung der Opfer und die Untersuchung der Katastrophe um Flug MH17 verlaufen chaotisch. Liegt das nur an dem politischen Konflikt in der Ukraine?

Chaos bei der Bergung der Opfer, gegenseitige Schuldzuweisungen, Probleme bei der Aufklärung. Seit die malaysische Passagiermaschine MH 17 am Donnerstag über dem ostukrainischen Grabowo abgestürzt ist, behindert der Konflikt zwischen den prorussischen Separatisten, die das Gebiet an der Absturzstelle kontrollieren, und der Regierung in Kiew eine objektive und unabhängige Untersuchung des Vorfalls, bei dem 298 Menschen ihr Leben verloren. Doch nicht nur wegen des politische Hintergrundes ist das Krisenmanagement so befremdlich.

Welche Kräfte sind derzeit an der Absturzstelle im Einsatz?

Offenbar herrscht vor Ort ein großes Durcheinander. Neben Mitarbeitern des ukrainischen Katastrophenschutzministeriums, die lokale Kräfte angeheuert haben, Bergarbeiter und Bauern aus der Region, waren Experten der OSZE am Samstag und am Sonntag vor Ort. Die ukrainische Regierung hat internationale Experten angefordert. Aus den USA sollen auch Fachleute des FBI helfen, die Absturzstelle zu untersuchen. Wann die Leute ankommen werden, ist nicht klar. Die Regierung Malaysias hatte ebenfalls ein Untersuchungsteam geschickt, die Gruppe war am Samstag in Kiew gelandet.

Die Aufständischen wollen die Sicherheit internationaler Ermittler am Absturzort nur garantieren, wenn die Führung in Kiew einer Waffenruhe zustimmt. Nach ukrainischen Angaben sollen die Aufständischen immerhin einer „Sicherheitszone“ rund um die Absturzstelle zugestimmt haben.

Wie verläuft die Untersuchung eines solchen Unglücks unter normalen Umständen?

Für die Untersuchung der Unfallursache ist nach internationalem Recht das Land zuständig, in dem sich der Absturz ereignet hat. Hinzugezogen werden Vertreter der betroffenen Parteien, im aktuellen Fall beispielsweise Malaysia als Heimatland der Fluggesellschaft und die USA als Heimatland des Flugzeugherstellers Boeing. Jeder Staat, aus dem Opfer des Unglücks stammen, kann zudem Experten entsenden. Das Bundeskriminalamt hat – wie häufig in derartigen Fällen – Forensikexperten zur Hilfe bei der Identifizierung der Opfer in Marsch gesetzt. Und Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) schickte am Sonntag den Direktor der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung, Ulf Kramer, und einen weiteren Mitarbeiter der Behörde in die Ostukraine. Kramer ist zugleich Präsident der europäischen Vereinigung der Flugunfalluntersuchungseinrichtungen.

Die ukrainische Regierung hat die internationale Zivilluftfahrtorganisation der Vereinten Nationen (ICAO) gebeten, die Federführung bei der Untersuchung zu übernehmen. Diese hat ein Expertenteam zusammengestellt und auf den Weg gebracht. Die ICAO hatte in der Vergangenheit bereits die Abschüsse einer südkoreanischen Verkehrsmaschine durch einen sowjetischen Kampfjet und eines iranischen Airbus durch ein amerikanisches Kriegsschiff untersucht.

Wie verläuft die Bergung der Opfer?

Den Rettungskräften zufolge wurden bis zum Sonntagmorgen 196 Opfer geborgen. Nach Angaben der Separatisten wurden die sterblichen Überreste von mindestens 167 Opfern zunächst in die ostukrainische Stadt Tores gebracht. Drei Kühlwaggons stünden mit zwei normalen weiteren Waggons auf dem örtlichen Bahnhof, sagte Michael Bociurkiw von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Sonntagnachmittag. Die OSZE-Beobachter hatten sich die Kühlzüge am Sonntagmorgen zwar angeschaut, auf eine Öffnung der Leichensäcke jedoch verzichtet. Als Begründung hieß es, die dafür nötige Ausrüstung sei nicht vorhanden. Nach Abzug der OSZE-Experten blieben die Züge ohne Bewachung zurück.

Wie bereits an den Vortagen wurde die Arbeit der internationalen Experten auch am Sonntag behindert. In Grabowo, dem Ort des Absturzes, sollen sich 900 Separatisten aufhalten, die schwer bewaffneten Männer hatten die OZSE-Mission keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Der Fotograf Jewgenij Maloletka, der für mehrere amerikanische Medien arbeitet, sagte dem Tagesspiegel, er habe den Eindruck, weder in Grabowo noch in Torez gäbe es einen Verantwortlichen, der die Aufräumarbeiten koordinieren würde. Ob sich in den umliegenden Feldern noch Teile menschlicher Überreste befinden, ist unklar. Maloletka berichtete auch, dass sich einige der Hilfskräfte schon nach weniger als einer Stunde geweigert hätten, die Sucharbeiten fortzusetzen.

In ukrainischen Medien kursierte der Verdacht, ein Teil der Toten in den Waggons auf dem Bahnhof in Torez würden gar nicht von der Absturzstelle stammen. Es gäbe Hinweise, dass die Separatisten einige Tote ausgetauscht hätten. Auch Fälle von Leichenschändung sollen bekannt geworden sein.

Was man bisher über die Absturzursache weiß

US-Außenminister John Kerry sagte am Sonntag dem US-Nachrichtensender CNN, das malaysische Verkehrsflugzeug sei mit einem Raketensystem abgeschossen worden, das den prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine von Russland zur Verfügung gestellt worden sei. „Es ist ziemlich klar, dass dieses System von Russland in die Hände der Separatisten gelangte“, sagte Kerry.

Zuvor hatte die „Washington Post“ berichtet, die US-Geheimdienste hätten vor gut einer Woche Hinweise darauf erhalten, dass die Boden-Luft-Raketen den prorussischen Rebellen zur Verfügung gestellt worden seien. Nach dem Absturz der Maschine seien die verbliebenen Raketen in der Nacht zum Freitag wieder auf russisches Territorium geschafft worden, berichtete die Zeitung unter Berufung auf einen US-Regierungsvertreter. Der ukrainische Geheimdienstchef Witali Najda habe berichtet, dass eine Batterie des Systems mit einer fehlenden Rakete am Freitagfrüh die Grenze nach Russland überquert habe.

Entscheidende Hinweise über die Umstände des Absturzes könnte die „Blackbox“ des Flugzeuges geben. Die prorussischen Aufständischen teilten am Sonntag mit, sie hätten am Absturzort „Flugzeugteile“ gefunden, die „Blackboxes ähneln“. Die gefundenen Teile könnten sie nicht selbst untersuchen, weil sie dafür keine Spezialisten hätten. Weil sie ukrainischen Ermittlern kein Vertrauen entgegenbrächten, könne das Material aber „internationalen“ Ermittlern übergeben werden. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko äußerte hingegen in einem Telefonat mit seinem französischen Amtskollegen Francois Hollande, die ukrainische Aufklärung verfüge über Satellitenbilder, die sowohl den Abschuss der russischen Buk-Rakete dokumentierten als auch die Ereignisse nach dem Absturz. Dieses Material sei so aussagekräftig, dass es keinen Flugschreiber brauche, um festzustellen, was sich ereignet habe.

Wie steht es um das Katastrophenschutzmanagement in der Ukraine?

Zweifellos behindern die Kämpfe im Osten des Landes den Transport der Opfer der Flugzeugkatastrophe. Aber auch ungeachtet dieses Hindernisses ist das Kompetenzchaos, das in Grabowo und Torez zu beobachten ist, befremdlich. In der Ukraine scheint sich das zu wiederholen, was bei vielen Katastrophen in Ländern der ehemaligen Sowjetunion zu beobachten ist: Ein durch Korruption ausgelaugtes System ist nicht einsetzbar, wenn es gebraucht wird. Als es in Russland vor ein paar Jahren im Hochsommer zu schweren Torfbränden kam, waren die örtlichen Behörden machtlos, weil weder Einsatzfahrzeuge noch Einsatzkräfte vorhanden waren. Der örtliche Gouverneur hatte die Feuerwehr „privatisiert“, Ausrüstung verkauft, die Arbeiter gefeuert, mit dem Geld Urlaub an der französischen Mittelmeerküste gemacht. Ein ähnliches Bild scheint sich in der Ostukraine zu zeigen. Weder regionale noch überregionale Hilfsmaßnahmen sind abrufbar. Verschiedene Krisenstäbe arbeiten aneinander vorbei.

Die ukrainische Regierung, die erst wenige Monate im Amt ist – Präsident Poroschenko regiert erst seit sechs Wochen –, wird mit diesem Unglück erneut schwer getroffen. Die Katastrophenschützer sähen wohl auch in Friedenszeiten nicht viel besser aus. Fehlende Kompetenzaufteilung, schlechte Ausrüstung, Mangel an Effizienz und das Fehlen eines modernen Krisenmanagements bei solcherlei Unglücken offenbaren die Rückständigkeit der Ukraine auch auf diesem Gebiet.

Präsident Poroschenko und Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk wissen um diese Defizite, deshalb wollen sie auch so viele internationale Experten zur Klärung der Unfallstelle ins Land holen wie nur irgend möglich. Doch auch diese Strategie könnte zu Problemen führen: Wenn Russen, Amerikaner, Europäer und Fachleute aus Malaysia die Unfallstelle untersuchen, wird es möglicherweise Ergebnisse geben, die neuen Streit und noch mehr Misstrauen säen. mit du-/AFP/dpa

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