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Erdogan-Fans stimmten mit "Evet" (JA) für das Präsidialsystem.

© Michael Kappeler/dpa

Folgen des Referendums: Die Türken verabschieden sich von Europa

Ein demokratisch gewählter Politiker schafft die Demokratie ab. Die seit 50 Jahren geltende Strategie des Westens für den Umgang mit islamischen Nachbarn ist gescheitert. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Der Westen hatte mal einen Traum. Im Rückblick kann man es auch einen Anflug von Größenwahn nennen. Dieser Traum suggerierte, dass das westliche Modell unwiderstehlich ist. Die Sehnsucht nach Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und ihren Segnungen für die Menschheit sei am Ende stärker als die Prägungen einer Gesellschaft durch andere Kräfte wie nationale Geschichte, Religion oder Stammesbindungen.

Dieser Traum ist am Osterwochenende in der Türkei geplatzt. Ein demokratisch gewählter Politiker hat die Abschaffung der Demokratie, des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung zur Wahl gestellt. Und eine Mehrheit der Abstimmenden hat sich dafür entschieden - jedenfalls laut dem offiziellen Ergebnis. Der Kern der demokratischen Verfassung wird nun ausgehöhlt, 76 ihrer Artikel werden geändert.

Es wird künftig keine ernsthafte Kontrolle des Staatschefs durch Justiz und Parlament mehr geben; denn beide sind von seinen Gnaden abhängig. Es ist das Ende der Demokratie. Und die Rückkehr zur Autokratie - zur Alleinherrschaft eines Menschen.

Der Schutz vor dem Sturz in die Diktatur fehlt nun - wie 1933

Die Türkei steht nun an einem Übergang in ein anderes Verfassungszeitalter - so wie Deutschland 1933. Das bedeutet keinesfalls, dass die die nächsten Jahre so grausam und blutig verlaufen müssen wie damals in der deutschen Geschichte. Aber die "Checks and Balances", die in einer Demokratie und einem Rechtsstaat davor bewahren sollen, sind ausgehebelt.

Trotz dieser kategorischen Wende, deren Möglichkeit sich seit Wochen abgezeichnet hat, tun nun manche immer noch so, als sei nicht geschehen, was geschehen ist. Und verweigern die zwingenden Konsequenzen. Die Türkei hat aufgehört, die Voraussetzungen für EU-Beitrittsgespräche zu erfüllen. Sie ist keine Demokratie mehr.

Die Exekution der Gewaltenteilung ist gravierender als die Todesstrafe

Da gibt es nichts mehr abzuwarten, ob nun auch noch die Todesstrafe eingeführt wird. Die Abschaffung der Gewaltenteilung ist gravierender als die Einführung der Todesstrafe im Strafgesetzbuch. Recep Erdogan hat die Demokratie exekutiert.

Die Türken haben sich von Europa verabschiedet. Das heißt natürlich nicht, dass Europa und Deutschland nun die Kontakte zur Regierung abbrechen sollen. Und schon gar nicht zu den Menschen dort. Wer darf sogar umgekehrt argumentieren: Nun brauchen wir erst recht noch mehr Kontakte. Es spricht nichts dagegen, deutsch-türkische Vereine zu gründen und das Netz der Städtepartnerschaften auszubauen.

Die EU muss die Beitrittsgespräche beenden

Das ist aber etwas anderes als die Fortsetzung Beitrittsgespräche mit der EU. Wenn Europa seine Werte ernst nimmt, kann es keinesfalls einfach weitermachen im Umgang mit Erdogan und seiner Partei wie bisher. Ohne Demokratie, ohne Rechtsstaat, ohne Gewaltenteilung darf es keine weiteren Aufnahmeverhandlungen mit der EU mehr geben.

Die seit mehr als einem halben Jahrhundert geltende Strategie des Westen für den Umgang mit seinen islamischen Nachbarn ist am Ende. Auf die Türkei richteten sich zu Recht die größten Hoffnungen, weil sie eine säkulare Staatsordnung hatte. Wenn es gelungen wäre, sie für das westliche Modell zu gewinnen, hätte dieses Beispiel zum Vorbild für weitere muslimische Staaten werden können.

Es ist aber nicht gelungen. Erdogans großes Verdienst besteht darin, dass er die andere große Gefahr für die Entwicklung der Demokratie in der Türkei, die Macht des Militärs, gebrochen hat. Als er freilich selbst vor der Entscheidung stand, was Vorrang hat - Demokratie oder eigene Macht -, entschied er sich für die Machtergreifung.

Es hat keinen Sinn, sich das schön zu reden. Es ist sogar gefährlich. Denn im Kern ist das nichts anderes als die Fortsetzung des Größenwahns mit Blick auf das westliche Modell. Wenn seine Strahlkraft nicht reichte, um die Türkei dauerhaft demokratisch zu machen, solange die Türkei draußen war, dann wird sie erst recht nicht reichen, um sie dauerhaft demokratisch zu machen, wenn man sie hereinlässt.

Europas Größenwahn führt zum Auseinanderfallen

Die jüngsten Jahre demonstrieren diese Gefahr sogar bei Staaten, die mehr europäische und mehr demokratische Traditionen haben als die Türkei. Polen und Ungarn zeigen eine gefährliche Empfänglichkeit für national-autokratische Versuchungen, gar nicht zu reden von den noch weit weniger hoffnungsvollen Fällen Bulgarien und Rumänien. Die EU hat genügend Schwierigkeiten, solche Bedrohungen von innen abzuwehren. Ihre Kräfte reichen nicht, um ein offen antidemokratisches Land wie die Türkei durch Fortsetzung der Beitrittsgespräche zur Demokratie zu bekehren. Hochmut kommt vor dem Fall - Größenwahn führt zum Auseinanderfallen.

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