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Frankreich: "Ministerium" für Obdachlose

Mit einer spektakulären Hausbesetzung im Pariser Finanzdistrikt haben Obdachlosen-Organisationen das Augenmerk der französischen Öffentlichkeit auf das brennende Problem der Wohnungsnot gerichtet.

Paris - Auf der einen Straßenseite schlägt mit der Börse das Herz von Frankreichs Hochfinanz, auf der anderen leben die, die sich keine Wohnung leisten können. In einer leerstehenden Bank gründeten Obdachlosen-Organisationen Anfang der Woche ein "Ministerium der Wohnungskrise" und setzen die Politik im Präsidentschaftswahlkampf unter Druck, endlich wirksam gegen die Misere vorzugehen.

Die Hausbesetzer nutzten die ruhige Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. "Wir sind durch die Fenster", sagt Alexander Archenoult von der Künstlerinitiative Macaq, die Obdachlose unterstützt. Jetzt herrscht in dem drei Jahre leerstehenden Haus geschäftiges Treiben, zehn Familien und mehrere Künstler richten sich häuslich ein. Auch ein Logo hat das sechsstöckige "Ministerium" bereits: Wie offizielle Ressorts zeigt es vor blau-rotem Hintergrund die französische Symbolfigur Marianne in weiß - diesmal aber mit Brecheisen und Schlüsseln in den Händen.

Leere Büroräume

Im vierten Stock steht noch "Back Office" an der Tür. Hier sorgten Bankangestellte früher für die reibungslose Abwicklung von Finanzgeschäften rund um den Globus - an der Wand hängen noch stehengebliebene Uhren mit den Aufschriften Hongkong, Paris, London und New York. Hafida Sadek lebt mit ihren zwei Kindern als Putzfrau von 680 Euro im Monat. Im September wurde sie aus ihrer Wohnung geworfen und findet seitdem keine neue. "Seit zehn Jahren versuche ich, eine Sozialwohnung zu bekommen", klagt sie. "Man sagt mir, dass es keine gibt. Aber das ist nicht wahr, schauen Sie hier", sagt die 47-Jährige und zeigt auf die weitläufigen Büroräume um sich herum.

Unten richten die Besetzer einen Diskussionsraum zur Wohnungsnot ein. "Wir wollen mit Betroffenen, Organisationen und Politik an präzisen Lösungen arbeiten", sagt Archenoult. "In den vergangenen drei Jahren sind die Mieten in einigen Vierteln um 30 bis 40 Prozent gestiegen. Die Wohnungskrise trifft heute nicht mehr nur Einwanderer oder Arbeitslose, sondern auch arbeitende Schichten der Bevölkerung." Archenoult sieht dahinter eine große Spekulationsblase. "Rentenfonds investieren massiv in Immobilien und treiben die Preise nach oben." 100.000 bis 400.000 Menschen hätten dagegen inzwischen in Frankreich keine Wohnung mehr. Die Politik müsse endlich etwas unternehmen.

Politik unter Zugzwang

Die sieht sich wegen der Präsidentschaftswahlen im April und Mai tatsächlich unter Zugzwang. In seiner Neujahrsansprache machte sich Präsident Jacques Chirac die Forderung von Obdachlosen-Organisationen nach einem einklagbaren Recht auf Wohnung zu Eigen. Schon vor Weihnachten hatte Innenminister Nicolas Sarkozy, der Chirac beerben will, erklärt, er wolle in zwei Jahren das Obdachlosen-Problem lösen. Die sozialistische Kandidatin Ségolène Royal kündigte einen "umfassenden Plan" gegen die Ausgrenzung an.

Begonnen hatte die Bewegung Mitte Dezember am Canal Saint-Martin im hippen zehnten Bezirk. Die Organisation Enfants de Don Quichotte hatte dort Zelte aufgestellt und Bürger wie Prominente eingeladen, eine Nacht mit Obdachlosen zu verbringen. Die kamen in Scharen, ebenso wie die Medien. Zahlreiche Politiker haben inzwischen eine Charta der Organisation zur Beseitigung der Wohnungsnot unterzeichnet.

Das "Ministerium" solle dafür sorgen, dass den Ankündigungen dieses Mal auch Taten folgten, sagt Archenoult. Eine Räumung fürchtet er nicht. Nach mehr als einer Woche Besetzung könne die nur per Gerichtsbeschluss erfolgen. "Mit Berufung und Schiedsverfahren wird es mindestens sechs Monate dauern, bis sie uns hier raus haben." Und dann sind die Präsidentschaftswahlen längst vorbei. (Von Martin Trauth, AFP)

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