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Politik: Frankreich

Marie-Hélène Cussac,Generation 25 25. März 2057: Ich bin 78 Jahre alt.

Marie-Hélène Cussac,

Generation 25

25. März 2057: Ich bin 78 Jahre alt. 12 a.m.: Zur Feier des hundertsten Jahrestages der Verträge von Rom senden alle TV-Kanäle die Europahymne live aus Rom. Ich lehne mich in meinen Sessel und blicke zurück auf meine jungen Jahre in Brüssel. Wie unvorhersehbar das Leben doch sein kann! Wer hätte damals zu träumen gewagt, dass die EU jetzt auch die Türkei einschließen und eine solide Verfassung haben würde und dass die nördlichen Mitgliedstaaten den Euro benutzen würden? So gut wie niemand, außer ein paar verrückten jungen europäischen Föderalisten, einigen leidenschaftlichen europäischen Kids wie mir, die mit Ende zwanzig/Anfang dreißig ebenso viele Hoffnungen für die EU hatten wie für ihre eigene Karriere, und ein paar anderen ahnungslosen und unvernünftigen Dummköpfen...

Als wir die europäische Konstruktion studierten, sprachen wir von Monnet und Schuman als Visionären, aber damals galt es als naiv, wenn jemand Visionen und Ambitionen für Europa hatte. Es gab auf nationaler Ebene kaum echte Führungspersönlichkeiten, und daher wurden Entscheidungen, die politisch zu riskant waren, um zu Hause gefällt zu werden, in Brüssel unter dem Zauberschirm des EU-Rates getroffen. Die Kommission war schwach geworden und wurde aller möglichen Übel beschuldigt. Gleichzeitig kämpfte sie wie Don Quichote gegen die Windmühlen in ihrem Versuch – mindestens 450 Millionen europäischen Bürgern, mit sehr wenig Unterstützung von den Mitgliedstaaten, wenn überhaupt –, Europa zu vermitteln. Ehrlich – wenn ich an die Zeit um das Jahr 2000 denke, bin ich erleichtert! Ich glaube, die Situation hatte sich damals verschlechtert, weil sich die Europäer durch den Fall der Sowjetunion auf der internationalen Szene irgendwie nicht mehr bedroht fühlten. Der Globalisierungsprozess war in der Tat eingetreten, aber Deutschland war wieder eins, ebenso wie Europa dank der historischen EU-Erweiterung von 2004, und die Erasmus-Generation, zu der ich gehörte, hielt die meisten Vorteile der EU für selbstverständlich.

Aber dann wehte der Wind langsam in eine andere Richtung. Nachdem der Westen abgehakt war, musste Europa schon bald nach Osten schauen. Öl und Gas im Kaukasus bedrohten Russlands Monopol auf dem europäischen Energiemarkt und warfen ein ganz neues Licht auf den EU-Beitrittsprozess der Türkei.

Es dauerte noch ein paar Jahre, aber die EU-Politiker erkannten, dass die EU trotz der ewigen geografischen Frage, ob die Türkei zu Europa gehöre oder nicht, mit der Türkei an Bord sicherer war als in einer Allianz mit Russland. Jetzt standen Sicherheitsprobleme im Kaukasus, in Zentralasien und im Nahen Osten im Zentrum der Aufmerksamkeit, und die Türkei hatte eine Schlüsselrolle zu spielen. Sie besaß nicht nur langjährige Beziehungen mit der Region, sondern nun – da sie beigetreten war – konnte die EU auch nicht mehr der Islamophobie beschuldigt werden, was den schrecklichen terroristischen Anschlägen, die wir in jenen Tagen ertragen mussten, ein Ende machte.

Was die Europäer außerdem zusammenbrachte, waren der politische Kampf gegen die Erderwärmung und der unaufhaltsame Aufstieg Asiens zum Mittelpunkt der Welt. Na ja, meine Großeltern hatten vom American Way of Life geträumt; jetzt zählen für meine Enkel nur asiatische Innovation und Kreativität! Ich komme mir vor wie bei einem Tennismatch: Ich bin mit dem Blick nach Westen aufgewachsen und werde mit dem Blick nach Osten alt; und doch weiß ich, wo ich sitze – in einem alten, soliden Sessel: Europa.

Die Autorin, Jahrgang 1978, ist Projekt-Manager am College of Europe. Aus dem Englischen von Karin Ayche.

Béatrice Angrand, Generation 50

Ich bin zehn Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge geboren. An ihrem 50. Jahrestag haben die zahlreichen Beiträge, die zu dieser Gelegenheit veröffentlicht wurden, meine Erinnerungen aus der Schulzeit wieder aufleben lassen. Mir sind der Mut und die Kühnheit derer bewusst geworden, die sie ins Leben gerufen haben. Bewegt von einer sehr starken gemeinsamen Vision, haben sie sich nicht davor gescheut, sich der empfindlichen Öffentlichkeit zu stellen. Europa ist für mich lange Zeit in der deutsch-französischen Beziehung verkörpert gewesen. Mit einem Offizier zum Vater, der während meiner ganzen Kindheit gegen die „Boches“ (abwertende Bezeichnung für die Deutschen) murrte und einer Französin, die in Algerien als „pied noir“ aufgewachsen ist zur Mutter, war ich nicht prädestiniert, mich für Deutschland zu interessieren. Dank einer großartigen Deutschlehrerin jedoch, habe ich dieses Land jung kennengelernt und gemocht.

Ich habe verstanden, dass die Versöhnung unserer beiden Länder ein außergewöhnlicher Prozess gewesen ist, der die europäische Entwicklung bis Mitte der 90er Jahre vorangetrieben hat. Ich möchte, dass das historische Ausmaß niemals in Vergessenheit gerät. Aber ich träume heute davon, daß die europäischen Völker zusammenkommen zum gemeinsamen Nachdenken über ihre Identität: welche Geschichte, welche Werte, welche Bilder und Symbole bringen uns zusammen und vereinen uns?

Um schließlich voranzukommen, muss Europa neue Projekte, neue Ideen und neue Anlässe finden, aber ebenfalls Lösungen für die Schwierigkeiten seiner Bürger. Europa muß ein Modell bleiben und Lust machen sich dafür zu engagieren.

Die Autorin, Jahrgang 1967, ist Arte-Mitarbeiterin und Schriftstellerin.

Yvette Cussac, Generation 75

Europa…endlich! Einzige Hoffnung auf Frieden. Nach den unglücksseligen und zerstörerischen Kriegen, die wir erlebt haben, sollten wir die Weisheit besitzen, seinen Aufbau schnell zu vollenden und unsere gesamte Jugend zusammenarbeiten zu sehen, Hand in Hand, stolz auf ihre Union im Antlitz der Welt von morgen, die sie anschauen und beneiden wird.

Die Autorin, Jahrgang 1923, ist Hausfrau.

Céline Moison

Ich habe in Germersheim studiert, einer kleinen Stadt in Süddeutschland. Ich habe dort vier Jahre gelebt, in einer WG. Ich teilte Bad und Küche mit Manuela, einer Italienerin aus Florenz, Mercedes, einer Spanierin aus Murica und Robert, einem Deutschen aus Stuttgart. Robert war ein Putzteufel, Mercedes feierte jeden Donnerstagabend in unserer Küche mit etwa 20 Freunden, Sangriafans, während Manuela jeden Abend mit Italien telefonierte. Und dann ich, die Französin, die erst einmal verstehen musste, was das ist, eine WG, ein so seltenes Prinzip in Frankreich.

Über dem Telefon war ein Zettel in vier Sprachen angebracht: „Non, Céline n'est pas là, elle est à l'université.“, „Robert ist nicht da, er ist bei der Uni“, dazu, die phonetische Übersetzung darunter: [Selin' ne pa la.]

Diese Wohnung war unsere kleine Europäische Union, die wir verstehen und schätzen gelernt haben. Heute sind diese internationalen WGs in allen europäischen Städten gang und gäbe und wesentlicher Bestandteil des Integrationsprozesses. Und mir gefällt die Vorstellung sehr, zu wissen, dass die Europaabgeordneten von morgen die Studenten von heute sind, die lernen, Sangria zu machen, Pasta al dente zu kochen und den Geruch von Camembert im Kühlschrank „schätzen“ zu lernen.

Die Autorin, Jahrgang 1978, ist stellvertretende Redaktionsleiterin von „rencontres“, dem deutsch-französischen Online-Magazin. Derzeit lebt sie in Hamburg.

Daniel Cohn-Bendit

Fünfzig Jahre, ein ehrwürdiges Alter für die Europäische Union. Es ist gleichzeitig viel und unglaublich wenig angesichts der europäischen Geschichte.

Trotz aller Schwächen, ja sogar trotz aller Fehlbarkeit, ermöglichte die Europäische Union, das Zusammenwachsen von Völkern, die bis dahin Feindseligkeiten, Zerteilungen und Kriege erlebt hatten. Insofern bildet die Gründung dieser Einheit eine der wichtigsten politischen Erfindungen in der Geschichte der Menschheit. Nur mit unglaublich viel „Bösgläubigkeit“ könnte man also ignorieren, dass die Europäische Union die Quelle für die rasche Beschleunigung der Erweiterung der Sphäre des Rechts und des kulturellen Fortschrittes gewesen ist.

Für ihren fünfzigsten Geburtstag hatte die EU jedoch nicht unbedingt eine „groovy“ Feier erwartet. Doch in der Nacht vom 8. zum 9. März 2007 wurden die Karten neu gemischt: in Nicosia ist die letzte Mauer Europas gefallen und der europäische Rat hat, indem er eine auf den Klimawandel ausgerichtete Energiepolitik initiiert hat, eine wichtige Wende in der Geschichte eingeleitet. Eine Geschichte, die wir weiter schreiben wollen. Fünfzig Jahre später schickt uns die Geschichte das Echo der Ursprünge zurück: die Prämissen des europäischen Aufbaus wurden nämlich um einen Vertrag über Kohle und Stahl herum gebaut, dessen Erfolg zur Unterzeichnung von weiteren Grundverträgen führten.

Auch wenn dieser Frühlingsgipfel nur minimalistische Lösungen für die Klimaproblematik mit sich gebracht hat, ist eine neue Dynamik im Gange. Die Rolle der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist dabei nicht zu leugnen: Angela Merkel hat es wohl geschafft, die Klimafrage in den Mittelpunkt zu rücken, indem sie aus der Energiefrage ein zentrales Thema des europäischen Gipfels gemacht hat.

Die Europäische Union braucht ein konkretes und stimulierendes Projekt: indem sie dem Kampf gegen die Klimawandel zuvorkäme, könnte die EU nicht nur Arbeitsplätze schaffen sondern daraus auch wirtschaftliche Vorteile ziehen. Die neuen Herausforderungen der EU bestehen also in der Entwicklung einer Energie- und Umweltpolitik, die nicht mehr aus dem gemeinschaftlichen Feld ausgeschlossen ist und die damit aufhört, der Logik der Partikularinteressen der Staaten zu dienen.

Nach dieser Logik der Partikularinteressen ist es nicht verwunderlich, wenn die EU ein Akteur bleibt, dessen Politik sich auf diplomatische Reaktionen beschränkt. Dann folgt – wie im Irak – die europäische Diplomatie den amerikanischen Bomben und koordiniert den Wiederaufbau und die humanitäre Hilfe, anstatt an Projekten für die Zukunft der Völker zu arbeiten.

Wollen wir die Geschichte der Europäischen Union weiter schreiben und vom Traum von einer besseren Welt weiter getragen werden, dann sollten die Entwicklung einer verantwortlichen gemeinschaftlichen europäischen Energiepolitik und der Kampf gegen den Klimawandel als neue Leitprinzipien der politischen Praxis der EU fungieren.

Der Autor, Jahrgang 1945, ist Publizist und Politiker.

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