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Frankreichs Atomtest: "Als Menschen zählten wir nicht viel"

Heute ist er Invalide, 1962 wurde er von Paris ins Atomtestgebiet geschickt: Ein Ex-Soldat erinnert sich.

Seine Nase ist nur noch ein Stummel. Das linke Auge hat er verloren. Mit einem Pflaster verdeckt er die Höhle. Sein Körper ist übersät mit den Spuren von Operationen, die er im Lauf der Jahre zur Behandlung seiner vielfältigen Krebserkrankungen über sich ergehen lassen musste. Lucien Parfait leidet an den Folgen der radioaktiven Strahlen, denen er vor einem halben Jahrhundert als junger Soldat bei einem Atomversuch in der algerischen Sahara ausgesetzt war. Als Invalide lebt der 70-jährige gelernte Maurer mit seiner Familie bei Montélimar in Südfrankreich. „Ich bin einer der wenigen aus meiner ehemaligen Einheit, die bis heute überlebt haben“, sagt er am Telefon. „Aber ich kämpfe weiter.“

In dem Kampf, den er gegen die Behörden führt, geht es ihm um die Wahrheit, gegen die Lüge und gegen das Vergessen. „Hurra! Seit heute ist Frankreich stärker und stolzer!“, hatte Präsident Charles de Gaulle den ersten Nukleartest bejubelt, mit dem sich das Land am 13. Februar 1960 bei Reggane 1800 Kilometer südlich von Algier in den Kreis der Atommächte bombte. 50 Jahre danach enthüllte die Zeitung „Le Parisien“ dieser Tage ein geheimes Dokument der französischen Streitkräfte, aus dem hervorgeht, mit welcher Leichtfertigkeit, wenn nicht Skrupellosigkeit damals Soldaten als Versuchskaninchen missbraucht wurden, um Erkenntnisse über ihr physisches und psychisches Verhalten in atomaren Kampfzonen zu erlangen. „Als Menschen zählten wir nicht viel“, sagt Parfait.

Daran hat sich wohl bis heute nicht viel geändert. Eine Entschädigung hat Parfait jedenfalls nie erhalten. Alle seine Anträge, Beschwerden und Klagen wurden abgewiesen. Er kann nicht nachweisen, dass er bei dem Versuch mit dem Codewort „Béryl“ am 1. Mai 1962 bei In Ekker im Hoggar-Gebirge tatsächlich dabei war. „In meinen Papieren steht, dass ich als Wehrpflichtiger mit dem 11. Pionier-Regiment in der Sahara eingesetzt war, aber nicht, an welchen Orten“, berichtet er. „Dabei kann ich genau sagen, was ich dort vor, während und nach der Explosion gemacht habe.“

„Béryl“ war nach vier vorausgegangenen Versuchen in der Atmosphäre, die Frankreich wegen internationaler Proteste einstellen musste, der zweite unterirdische Test. Der führte zu einer Katastrophe. „Wir, die einfachen Soldaten in Shorts und mit veralteten Gasmasken, waren nur 500 Meter entfernt, als die Explosion den Berg aufriss, gewaltige Felsen in die Höhe schleuderte und eine riesige Wolke freisetzte“, erinnert sich Parfait. Er war unter den Letzten, die den Ort fluchtartig verließen. Tage danach schickte man ihn mit einem Kameraden ohne Schutz los, um einen Kompressor aus den Trümmern zu bergen. „Zwischen unserer Angst vor den Gefahren und der Unmöglichkeit, den Befehl zu verweigern, waren wir hin- und hergerissen.“ Als sie mit dem Gerät zurückkamen, gab es nichts zu ihrer Entkontaminierung. „Unsere Zelte wurden abgestaubt, das war alles.“

210 Atomversuche führte Frankreich zwischen 1960 und 1996 durch, 17 in der Sahara, die übrigen im Pazifik. Nach Schätzungen des Verbandes der Veteranen der Nuklearversuche waren 160 000 Militärs und Zivilarbeiter den Strahlen ausgesetzt. Wie viele erkrankt oder tot sind, ist unbekannt. Nicht berücksichtigt sind die Folgen für die Bevölkerung. Anders als Paris damals behauptete, war der Süden der Sahara keineswegs unbewohnt. Das Schicksal der etwa 20 000 Tuareg im Einzugsgebiet der Versuche gehört zu den ungelösten Streitpunkten zwischen Algerien und der früheren Kolonialmacht.

Lange Zeit bestritt Paris einen Zusammenhang zwischen den Atomversuchen und den Erkrankungen. Eine TV-Dokumentation zu dem Thema wurde 1995 abgesetzt, als Präsident Jacques Chirac die Tests im Pazifik wieder aufnahm. Unter dem Druck des Veteranenverbandes, der den Skandal an die Öffentlichkeit brachte, gab die Regierung später ihr Leugnen auf, beharrte aber darauf, dass es sich nur um wenige Krankheitsfälle handele. Ein Entschädigungsgesetz fiel Ende 2009 so restriktiv aus, dass die Opposition es als „symbolisches Minimum“ kritisierte. Sein geografischer Anwendungsbereich ist stark eingeschränkt, als ob sich radioaktive Niederschläge an örtliche Grenzen hielten. Statt 30 Krankheitsbefunden wie in den USA wurden nur 18 als mögliche Folgen anerkannt. Wer geraucht hat, geht im Fall einer Krebserkrankung leer aus, was die Betroffenen, die damals neben dem Sold wöchentliche Tabakrationen erhielten, als absurd empfinden.

Die Hoffnung auf eine Entschädigung hat Lucien Parfait aufgegeben. Geld wolle er auch keins mehr, sagt er, sondern nur eines: „Dass unsere Opfer anerkannt werden.“

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