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Politik: „Frankreichs Herz liegt auf dem Land“

Ulrich Wickert über Wahlkampf im Nachbarland, Kandidaten und Kultur

Was ist das Besondere an Präsidentschaftswahlen in Frankreich?

Wenn in Frankreich ein kleiner Junge von seinem Vater gefragt wird, was er später einmal werden möchte, antwortet er: „Ich möchte Präsident werden.“ Das hat mit dem Selbstverständnis der Franzosen zu tun. In der Position des französischen Präsidenten verkörpert sich die nationale Identität.

Was unterscheidet den gegenwärtigen Wahlkampf von zurückliegenden?

Für mich ist das ein neuer Wahlkampf. Bisher traten Politiker gegeneinander an, die schon ganz lange im Geschäft gewesen sind. Und jetzt sind es Politiker, die vermitteln wollen: Wir sind ganz neue Politiker, weil die Franzosen den alten Politikstil nicht mehr mögen. Auch das Nein beim Referendum über die EU-Verfassung im Jahr 2005 war gegen die alte politische Klasse gerichtet. Die beiden Favoriten in den Umfragen, der Konservative Nicolas Sarkozy und die Sozialistin Ségolène Royal, haben aber auch ein Problem. Royal muss den Spagat schaffen, weil sie Stimmen aus dem Lager der Konservativen braucht. Und Sarkozy macht einen extrem rechten Wahlkampf, weil er befürchtet, dass der rechtsextreme Jean-Marie Le Pen ihm in der ersten Runde wichtige Stimmen wegnehmen könnte. Dieser Rechtsdrall bei Sarkozy macht vielen Leuten Angst.

Seit über einer Woche gilt im französischen Fernsehen die strenge Regel, dass allen Kandidaten die gleiche Sendezeit zugemessen wird. Warum ist die Berichterstattung trotzdem unausgewogen?

Es gehört zu Frankreichs System, dass die Regierung einen sehr starken Einfluss auf die Medien hat. Als Alain Peyrefitte in den sechziger Jahren Informationsminister wurde, fand er auf seinem Schreibtisch ein Gerät, das aussah wie ein Telefon mit vielen Knöpfen. Auf die Frage, was das sei, antwortete man ihm: „Das ist der Apparat, mit dem Sie alle Chefredakteure in Fernsehen oder Rundfunk anrufen können.“ Heute ist das nicht mehr so schlimm, aber die Regierung versucht nach wie vor, Einfluss auszuüben.

Dritter in den Umfragen ist zurzeit der Zentrumskandidat François Bayrou. Wie erklären Sie sich dessen Erfolg?

Bayrou hat die letzten Wahlkämpfe analysiert und sich gefragt, warum eigentlich Jacques Chirac 1995 gewählt wurde. Damals dachten alle, dass das Rennen zugunsten von Chiracs Konkurrenten Edouard Balladur gelaufen sei. Chirac hatte damals den Wahlkampf sehr früh in der französischen Provinz angefangen. Das hat Bayrou auch getan. Seine Kandidatur hat er in seinem Heimatdorf bekanntgegeben, nicht in Paris. Das Herz Frankreichs liegt eben auf dem Land.

Ségolène Royal versucht damit zu punkten, dass sie sich bewusst vom Pariser Politik-Betrieb distanziert. Ist dieses Bild von der Regionalpräsidentin, die mit der Hauptstadt nicht viel am Hut hat, überhaupt richtig?

Überhaupt nicht. Sie gehört zur Pariser Polit-Elite. Sie ist eine Absolventin der Elite-Hochschule Ecole Normale d’Administration (ENA), genauso wie ihr Lebensgefährte François Hollande. Sie war mehrmals Ministerin und ist Teil des französischen politischen Establishments.

Hat sie wirklich Chancen, Präsidentin zu werden?

Ich glaube, dass es nach den jetzigen Umfragewerten entweder Sarkozy oder Bayrou werden wird. Bayrou muss es nur in den zweiten Wahlgang schaffen. Dann würde er gewinnen, weil der die ganze Linke auf seine Seite bekommen würde. Das sagen auch alle Umfragen.

Sie haben viele Jahre in Frankreich gelebt. Gibt es dennoch etwas, was Ihnen an Frankreich immer ein Rätsel geblieben ist?

Die Franzosen öffnen sich über die Sprache und die Kultur. Ich habe das große Glück gehabt, dass ich in Frankreich für einige Jahre in eine französische Schule gegangen bin und dadurch auch einen Teil der französischen Kultur mitbekam. Genauer gesagt: Die französische Zivilisation – dies entspricht eher dem französischen Begriff. Zu Frankreichs Zivilisation gehört es nicht nur, den Tragödienautor Racine zu kennen, sondern auch die „Frères Jacques“ und ihre Nachkriegslieder.Wenn man da Bescheid weiß, gehört man doch schneller dazu.

Das Gespräch führten Albrecht Meier und Christian Tretbar.

Ulrich Wickert (64) arbeitete lange als ARD-Korrespondent

in Frankreich und berichtete über mehrere Präsidentschaftswahlen. Von 1991 bis 2006 moderierte er die „Tagesthemen“.

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