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Müntefering

© dpa

Franz Müntefering: Die wichtigste Aufgabe

Zuerst kommt die Partei. So war es bis gestern. Jetzt ist Franz Müntefering zurückgetreten - weil seine Frau schwer krank ist.

Es gibt kein Innehalten. In den eisigen Höhen der Macht sind die Lücken, die Menschen reißen, schon geschlossen, wenn die Öffentlichkeit davon erfährt. Geht der Gang der mehr oder weniger banalen Schlachten um Stellungsvorteile für die eine oder die andere Partei nach einer langen Nacht weiter, die Abfolge von Terminen, Treffen, Fraktionssitzungen.

Franz Müntefering spricht „von der Aufgabe, die jetzt meine wichtigste ist“. Sein Rücktritt ist einer jener seltenen Momente, der alle Geschäftigkeit zurücktreten lässt. Einer tritt zurück und hinterlässt das Gefühl, dass es doch einen gibt, der in diesen eisigen Höhen von der Dringlichkeit einer menschlichen Entscheidung geleitet wird. Zu diesem Moment gehört die Gewissheit, dass dieser Rücktritt eine politische Zäsur ist, obwohl „Münte“ Abgeordneter belieben wird: Da geht einer, der für die SPD und für das Land wichtig war.

Franz Müntefering tritt von seinen Ämtern zurück, weil seine Frau schwer erkrankt ist. „Es wird eine lange Phase der Rehabilitation geben und ich möchte dabei sein“, sagt Müntefering. Es sei eine „rein familiäre und persönliche Entscheidung“. 2002, im Jahr des schweren Bundestagswahlkampfs, stand er schon einmal vor dieser Frage. Damals, als die Krebserkrankung mit voller Wucht zugeschlagen hat, beschlossen Ankepetra und Franz Müntefering gemeinsam: weitermachen. Seit dem vorletzten Wochenende aber, als Müntefering sich für eine Woche von allen Terminen befreit hat, war klar, dass die Dinge eine schlechte Wende genommen haben. Eine weitere Operation, der sich seine Frau unterziehen musste, die fünfte seit 2001.

Franz Müntefering gehört zu jener Sorte Mensch, die dann eben loslässt und nicht weitermacht. Er geht, in einer Situation, in der die Unruhe und der Streit in seiner Partei, der Konflikt zwischen dem Parteichef und dem Arbeitsminister eingedämmt sind. Die Spekulationen über politische Motive für den Rücktritt sind beherrschbar.

Am Vormittag des 13. Novembers hat der Vizekanzler mit der Bundeskanzlerin gesprochen. Am späten Nachmittag empfängt ihn seine Bundestagsfraktion, bewegt, mit Standing Ovations. Und Müntefering beantwortet geduldig alle Fragen zu den Einzelheiten der nächtlichen Verhandlungen, nachdem er lächelnd den den Rücktritt, der sich inzwischen herumgesprochen hat, noch einmal erklärt hat. Der Vizekanzler und Arbeitsminister, der ehemalige Fraktionschef und SPD-Vorsitzende absolviert den Tag seines Rücktritts mit der gleichen eisernen Disziplin, die Freund und Feind an ihm kennen, bewundern, die ihn anderen oft fremd und unverständlich gemacht hat. In jedem Fall hat sie anderen Achtung abverlangt.

Eine lange Verhandlungsnacht liegt hinter Franz Müntefering, in der er in jener einen Angelegenheit, für die er glüht, gescheitert ist: Stichwort Mindestlohn für die Post. Eine andere Sache ist ihm dafür gelungen, deretwegen er in einem langen öffentlichen Streit mit seiner eigenen Partei lag: Stichwort Verlängerung des Arbeitslosengelds I. Parteichef Kurt Beck hatte sie im Oktober zum Ausgangspunkt für eine neue Offensive der SPD gemacht, Müntefering war dagegen. Die Lösung, auf die sich Union und SPD in dieser Nacht verständigt haben, trägt durchaus Züge des Vorschlags, den Müntefering Beck vergeblich gemacht hatte. Die Fahne mit dem Mindestlohn, mit der Müntefering, längst vor Beck, das angeschlagenen Profil der SPD neu konturiert hat, die hat er gestern aus der Hand gegeben, an Beck, an den neuen Arbeitsminister Olaf Scholz, und die nach ihm.

Das kann nicht ohne Bitterkeit sein - es ist wohl kaum möglich ohne die Festigkeit und innere Stärke, mit der Müntefering die Geschicke der SPD und des Landes mitbestimmt hat. SPD-Chef Kurt Beck und die engere SPD-Führung waren vor der Verhandlungsnacht informiert, am späten Montagnachmittag hat Müntefering mit Beck gesprochen, die Entscheidung war Tage vorher getroffen. Die geordnete Übergabe seiner Ämter an den neuen Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier und Scholz stand nie in Frage. Die Unions-Seite wurde überrascht. CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer sitzt am Dienstag Vormittag in einer Journalistenrunde, als ihm die Nachricht hereingereicht wird. Er versichert, man habe in der Nacht nichts bemerkt, auch nicht, als nach der Verhandlungsrunde ein kleiner Spitzenkreis nach zwei Uhr noch eine halbe Stunde zusammengesessen hat. Die Disziplin von Franz Müntefering galt immer auch in hoher Dosis der SPD.

Dass er, der lange sein öffentliches Bild als Betonsozi und Parteisoldat ertragen hat, nicht an Ämtern klebt und loslassen kann, hat er im November 2005 mit großer Souveränität bewiesen. Mitten in den Verhandlungen um die große Koalition war er auf einmal nicht mehr SPD-Chef, weil die SPD-Spitze die junge Parteilinke Andrea Nahles aufnötigen wollte. Münterfering hatte einen anderen Kandidaten seines Vertrauens.

Die Geschichte dieses Rücktritts hat die Legendenbildungen um die Frage, wer Müntefering eigentlich ist, wie keine andere beflügelt. Sie habe den Warnschuss nicht gehört, hat Nahles damals zu Protokoll gegeben. Das ist glaubhaft, denn viele andere der Beteiligten haben ihn auch nicht gehört. Wenn Müntefering unbedingt gewollt hätte, wäre er damals SPD-Chef geblieben. Die Jahre als SPD-Vorsitzender beschreibt er als die seiner stärksten Anspannung: Es sei, als halte man unaufhörlich einen straff gespannten Expander zwischen den Armen, und liefe Gefahr, dass beim leisesten Zucken einer Hand alles auseinanderfliege. Es war die Zeit der Agenda-Reformen, zu denen der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder sich spät entschlossen hat, die der SPD nur mit dem Verweis auf die Regierungsraison einzubläuen waren. Für die Schröder den SPD-Vorsitz im März 2004 an Müntefering abgegeben hat, der es strahlend als „das schönste Amt neben dem Papst“ bezeichnet.

Bequemlichkeit oder der Wunsch nach übersichtlicheren Aufgaben war es trotzdem nicht, die Müntefering 2005 zur Aufgabe des SPD-Vorsitzes getrieben haben. Während viele Unterhändler der Union unter dem Schock diese Rücktritts noch glaubten, die große Koalition käme gar nicht mehr zustande, hatte Müntefering bereits mit Angela Merkel telefoniert: Alles gehe weiter wie geplant. „Münte“, der Spezialist für die Seele der SPD, der mit den berühmten kurzen Sätzen, der Volksschüler aus dem katholischen Elternhaus im Sauerland, der mit 14 Jahren ins Arbeitsleben eintrat, der Frau und Kind zu versorgen hatte, als die 68er das Land und auch ihn aufwühlten, dieser Müntefering also hat in der rot-grünen Ära zwei starke Damaskus–Erlebnisse gehabt.

Dass deutsche Soldaten–Stiefel nie wieder in andere Länder gehören, diese väterliche Botschaft hat der Kosovo-Konflikt abgelöst. Ein spät Überzeugter war Müntefering auch, als Schröder sich endlich an die Reform des Sozialstaats wagte. Als Müntefering Vizekanzler der großen Koalition wurde und aufhörte, SPD-Chef zu sein, war das auch eine Entscheidung dafür, mit dem ernst zu machen, wovon er fest überzeugt war: Dass der Sozialstaat auf die neuen Bedingung von Globalisierung und Demografie eingestellt werden müsse, weil er sonst vom globalisierten Markt zerstört werde.

Dass die SPD ihre „historische Schwäche“, den Oppositionsgeist ihrer Gründerzeit hinter sich lassen müsse, hat Müntefering schon angetrieben, als er noch allgemein als der Betonsozi vom alten Schlage galt. Diese Mentalität hat ihn mit Schröder verbunden, der von Temperament und Disziplin das ganze Gegenteil ist: Schröder habe immer dagegen gekämpft, dass „die anderen“, wie der Ex-Kanzler bis heute Münteferings Koalitionspartner bezeichnet, das Land betrachten, als gehörte es ihnen.

Münteferings Credo lautet: Die SPD muss regieren wollen. Und für die SPD in der großen Koalition hat er übersetzt: Die SPD muss in erster Linie durch gute Regierungsarbeit beweisen, dass sie es kann.

Es gibt Stationen in Münteferings politischer Laufbahn, die könnte man lesen, als sei er immer eine abgeleitete Größe neben anderen gewesen. Als Bundesgeschäftsführer wurde er 1995 vom damaligen SPD-Chef Rudolf Scharping gerufen. Der wurde auf dem Mannheimer Parteitag gestürzt; Müntefering wurde Bundesgeschäftsführer unter Oskar Lafontaine. Und zum Generalsekretär aufgewertet unter Gerhard Schröder. Es hat ihn nie gerührt, als Diener dreier Herren bezeichnet zu werden. Denn Müntefering hat tatsächlich nur der SPD gedient. Das exklusive, enge Verhältnis mit Schröder war eines auf Augenhöhe, obwohl die zentrale Bedeutung der Kanzlerrolle unstrittig war. Der impulsive Schröder hat sich Müntefering einmal im Interview zum „Freund“ gewünscht. Der verschlossene Müntefering hat geantwortet, er sei eben kein Kumpel – und später erst bemerkt, dass darin vielleicht eine Kränkung seines Gegenübers liegen könnte.

Müntefering hat, wie er selbst bekennt, seine Karten immer sehr eng am Körper geführt. Nicht zu Unrecht haben gerade seine eigenen Leute ihn oft als unzugänglich, stur, einzelgängerisch empfunden. Wer es ihm in der Hoffnung auf den Beweis des Gegenteils vorhält, wird immer enttäuscht. Der „Münte“, wie er längst nicht mehr nur in der SPD genannt wird, gehört zu denen, die sich selbst kennen. Im Zentrum der Macht ist das eine seltene Eigenschaft. Die Ämter, sagt er von sich zu Recht, seien immer zu ihm gekommen, er habe sich nie danach gedrängt. Er weiß aber auch, dass darin nicht nur ein erfreulicher Mangel an Ehrgeiz liegt, der viele Politiker aus ihren Überzeugungen herauswachsen lässt. Sondern durchaus auch eine spezielle Art von Eitelkeit, auch in diesen Sphären der Macht als guter Mensch zu bestehen.

Münteferings Unzugänglichkeit mag gelegentlich unerträglich sein, wenn in Verhandlungsrunden auf einmal einsame Entscheidungen feststehen. Doch Müntefering schützt damit auch einen inneren Kern, der die Aura, seine Glaubwürdigkeit ausmacht, die so viele Menschen an diesem Politiker anzieht. Man fühlt: Da ist wirklich etwas, das sich nicht zerschleißen und zerreiben lässt in Taktik oder Machtkämpfen. Und manchmal kann man akzeptieren, dass ein Politiker, der noch fühlt, auf diesen Schutz angewiesen ist. Die SPD, die ohne Schröder und Müntefering die Zeichen der Zeit nicht erkannt hätte, sucht ihren Weg danach. Ihre Wunsch, nicht im 20-Prozent– Getto zu versinken ist so berechtigt, wie Münteferings Drängen auf Reform- und Regierungsdisziplin. Es muss ein böses Erlebnis sein, wenn der Ex-Kanzler aus dem Willy-Brandt-Haus an Münteferings Adresse sagt, dass die Reform-Agenda nicht die Zehn Gebote sei und niemand sich zum Moses aufschwingen sollte. „Ich würde alles wieder so machen, wie ich es gemacht habe“, sagt Müntefering der SPD-Fraktion.

Er hat ein Geheimnis. Er ist ein Mensch geblieben in eisigen Höhen.

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