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Politik: Franz Müntefering im Interview: "Wir müssen weg vom alten autoritären Stil"

Franz Müntefering (61) hat sich die Modernisierung der Volkspartei SPD zur Aufgabe gemacht. Seit Ende 1999 ist er Generalsekretär der Partei.

Franz Müntefering (61) hat sich die Modernisierung der Volkspartei SPD zur Aufgabe gemacht. Seit Ende 1999 ist er Generalsekretär der Partei. Schon unter den Vorsitzenden Rudolf Scharping und Oskar Lafontaine hat er als Bundesgeschäftsführer die Geschicke der SPD maßgeblich mitbestimmt. Neben Bundeskanzler Gerhard Schröder, Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier und Fraktionschef Peter Struck gehört er zum Machtzentrum der SPD.

Herr Müntefering, Sie haben 1995 als Bundesgeschäftsführer des Parteivorsitzenden Scharping angefangen und sind heute der Generalsekretär des Kanzlers und Parteivorsitzenden Schröder. Haben Sie sich auf diesem Weg verändert?

Ich war damals Geschäftsführer der SPD, ich bin heute ihr Generalsekretär - gewählter Generalsekretär, das ist mir wichtig. Menschen verändern sich immer. Ich hoffe, dass ich genug dazugelernt habe, um die nächste Bundestagswahl gewinnen zu helfen.

Was zählt denn mehr, wenn man Diener dreier Herren war: Die Loyalität zur Sache oder die Loyalität zur Person?

Wenn Sie denn von Diener sprechen, dann bin ich zuerst Diener der SPD. Für mich ist das ist nicht irgendeine Partei, vielleicht habe ich dazu sogar eine etwas sentimentale Haltung. Ich möchte, dass die Idee weitergetragen wird: Sich nicht abfinden mit den Dingen, es besser machen wollen - ohne die Illusion vom Paradies auf Erden oder vom Neuen Menschen. Ich habe lange mit Oskar Lafontaine zusammengearbeitet. Er war ein erfolgreicher Parteivorsitzender und er hat ein Riesenverdienst am Wahlsieg von 1998. Heute arbeite ich gut mit Gerhard Schröder zusammen. Es war richtig und konsequent, dass er den Vorsitz übernommen hat. In den letzten anderthalb Jahren ist erkennbar, dass das gegenseitige Aufeinanderzugehen in der Partei genutzt hat. Gerhard Schröder ist nicht nur Kanzler, sondern erkennbar auch der erste Mann der SPD.

Was waren zwischen 1995 und heute für Sie die gravierendsten Erlebnisse?

Das Schönste war der Wahlsieg, das Schwierigste war der Abgang von Lafontaine am 11. März 1999. Das war enttäuschend. Man kann der SPD nicht einfach einen Brief schreiben: Ich bedanke mich für gute Zusammenarbeit, mit freundlichem Gruß. Politisch schwierig war der Rücktritt, weil im Bewusstsein der Menschen einer, Gerhard Schröder, für die Innovation und der andere, Oskar Lafontaine, für Gerechtigkeit stand. Die von uns nicht gewollte, aber faktische Personalisierung der Gerechtigkeit war weggebrochen. Damit mussten wir lange kämpfen, mit dem Parteitag Ende 1999 in Berlin ist das aber gelungen. Damals ist die Partei im Grunde gesprungen. Sie hat den Parteivorsitzenden Gerhard Schröder wirklich akzeptiert und gesagt: Ja, mit ihm zusammen machen wir das jetzt.

Hat sich die SPD denn verändert?

Ja. Das war auch dringend nötig. Wenn man lange in der Opposition ist, dann ist es menschlich, das zu beschließen, was man sich wünscht. Wenn man in die Regierungsverantwortung kommt, merkt man, dass manches ein bisschen anders ist, als man es sich gewünscht hat. Denn das Wünschbare und das Machbare sind nicht immer dasselbe. Damit fertig zu werden, ist nicht einfach. Da gibt es unerfüllbare Erwartungen und die Frage: Machen wir es uns zu leicht, oder haben wir vorher Illusionen gehabt?

Hat Lafontaines Rücktritt den Abschied von Illusionen nicht auch erleichtert? Im Bundestagswahlkampf hat er bei der Rentenpolitik Erwartungen geweckt, die mit der Rentenreform nicht einzulösen waren.

Wir haben in das Wahlprogramm geschrieben, dass wir eine zusätzliche, private Säule bei der Alterssicherung wollen. Ich kann nicht ausschließen, dass nicht alle voll realisiert haben, was gemeint war, und dass es Illusionen gegeben hat. Aber beschlossen war es so. Wir haben mit der Rentenreform eine historische Entscheidung getroffen, denn die private Vorsorge ist unabdingbar. Die Debatte war schwierig und wird weiter geführt. Ich traue mir aber zu, jeder Versammlung in einer halben Stunde zu erklären, dass dieser Weg sein muss, weil sonst das ganze Solidarsystem in Frage steht.

Welcher Sozialdemokrat kann in der Mediengesellschaft Vertrauen transportieren, wer nicht?

Gerhard Schröder unbedingt, ich eher weniger. Ich bin dafür nicht geboren. Das Fernsehbild kommt in das Wohnzimmer und da lassen sich die Menschen nicht gerne kämpferisch agitieren, wie wir das manchmal auf Veranstaltungen machen. Wer ins Wohnzimmer kommt, soll sich argumentativ und moderat verhalten. Deshalb ist meine manchmal kühle, sauerländisch sture Art nicht immer das richtige. Schröder kann das sehr gut. Auf Parteiversammlungen glauben sie mir, dass ich es ehrlich meine, dass ich die SPD und ihre Traditionen ernst nehme. Und ich bin viel in Versammlungen.

Sie haben der SPD ein umfangreiches Modernisierungsprogramm vorgelegt, von der Öffnung der Wahllisten bis zur Befürwortung von Volksentscheiden. Das ist fast ein Jahr her, viel bewegt hat sich nicht.

Das ist nicht zutreffend. Die Parteireform wird intensiv diskutiert und schon das ist ein Erfolg. Aber es tut sich auch sonst was. Wir haben vor einer Woche die Kommunalakademie ins Leben gerufen, um junge Leute auf kommunalpolitische Aufgaben vorzubereiten. Das ist gezielte Nachwuchsförderung. Kein anderer Berufsstand geht so lässig wie die Politik davon aus, dass die Genies schon von alleine kommen. Aber wir brauchen nicht viele Genies, wir brauchen gute Handwerker. Meine Vorschläge sind akzeptiert, dass 30 Abgeordnete der nächsten Bundestagsfraktion unter 40 Jahre alt sein sollen und zehn von außen kommen sollen.

In Nordrhein-Westfalen, wo Sie Landesvorsitzender sind, sind Ihre Vorschläge zur Parteireform hoch umstritten.

In Nordrhein-Westfalen geht es um die Frage des Verhältnisses von Landesebene und den vier Bezirken. Ich will nicht jedes Argument gegen meine Vorschläge beiseite schieben. Aber ich fühle mich sicher bei meiner Linie: Wir brauchen einen Landesbezirk, denn das wird der einzige Weg sein, in der Fläche dauerhaft hauptamtlich verankert zu bleiben. Wir dürfen in Nordrhein-Westfalen nicht den Fehler machen, die SPD-Struktur in der Fläche auszudünnen. Die 54 Unterbezirke bleiben alle hauptamtlich ausgestattet, auch für die Zukunft. Die Ortsvereine und Unterbezirke sollen finanziell sogar gestärkt werden. Land und Bezirke müssen miteinander ausmachen, was an anderer Stelle eingespart werden muss. Wir haben fünf Vorstände, fünfmal den Aufwand für Buchhaltung, Kassenführung, Mitgliederdatei. Das kann nicht so bleiben, auch deshalb mein Vorschlag.

Die Öffnung der SPD für junge und Nichtmitglieder zu beschließen, ist leichter als es wirklich zu realisieren.

Die Öffnung der Partei, eine alte Frage. Die SPD hat von sich selbst das stärkste Parteibewusstsein, schon weil sie die älteste deutsche Partei ist. Die CDU/CSU ist als Nachkriegsgründung von Anfang an immer offener für Vorfeld-Organisationen gewesen und weniger auf sich selbst bezogen. Sie hat deshalb übrigens immer auch weniger innerparteiliche Diskussionen gehabt. Wir haben uns oft darüber mokiert. Aber wenn dann Wahlen waren, war die Union oft stärker als die SPD und wir konnten uns das gar nicht erklären. Es stimmt, diese Öffnung wird schwierig sein.

Im November ist Parteitag. Die Vorbereitung sieht ziemlich traditionell aus. Ein Leitantrag, das Motto "Sicherheit im Wandel", fünf weitere Anträge des Parteivorstands.

Wir gehen ausdrücklich nicht mit Anträgen, sondern sehr früh und mit Entwürfen in die Diskussion. Im Übrigen halte ich es für eine gute Tradition, dass die Partei über die großen politischen Linien für das Regierungshandeln diskutiert. Wir haben einen Parteitag im November und im nächsten Jahr den Wahlparteitag. Auf diesen Parteitagen muss die SPD festlegen, welche Politik wir nach der nächsten Wahl machen wollen.

Werden in Wahrheit die großen Orientierungen nicht in der Regierung entschieden?

Das ist ja die Aufgabe, mit der eine Regierungspartei fertig werden muss. Die Regierung kann nicht mit ihren Entscheidungen immer auf Parteitage warten. Die idealtypische Kaskade vom Ortsverein bis zur Parteiführung, die der Regierung sagt, was sie machen soll, ist natürlich unrealisitisch. Aber dass man in der Regierungspartei zu grundlegenden Fragen eine Meinung für das Regierungshandeln bildet, das sehe ich als unverzichtbar an. Wir stehen vor neuen Themen, beim Verbraucherschutz, der Agrarwirtschaft, der Gentechnik, bei der es um ethische Fragen geht, oder der Gesundheitspolitik. Da werden Parteitage nicht die letzten Feinheiten, aber Leitlinien beschließen.

Werden die Grundbegriffe Innovation und Gerechtigkeit auch für den nächsten Bundestagswahlkampf maßgeblich sein?

Wir werden andere Begriffe finden. Sicherheit im Wandel ist noch nicht das Motto für den Wahlkampf. Aber das Spannungsverhältnis bleibt, das wir beschreiben und damit wollen wir Vertrauen gewinnen. Wir wollen den Wandel so gestalten, dass man vor Veränderungen keine Angst haben muss, dass es gerecht zugeht, auch wenn manchmal ein Knoten durchgeschlagen werden muss.

Der Leitantrag schlägt die Umwandlung der Arbeitslosenversicherung in eine allgemeine Erwerbstätigenversicherung vor. Ist das nicht eher ein ganz alter sozialdemokratischer Ansatz: Alle zahlen in eine Versicherung, alle können was herausholen?

Der Grundgedanke dieses Vorschlags ist nicht das Arbeitslosengeld, sondern die Sicherung von ständiger Qualifikation und Weiterbildung. Wir sagen: Wenn wir die Arbeitslosigkeit dauerhaft bekämpfen, dann verliert die Arbeitslosenversicherung an Gewicht. Das Geld kann eingesetzt werden, um zu bilden, zu qualifizieren, und damit wiederum der Arbeitslosigkeit für die Zukunft vorbeugen. Darüber muss man diskutieren können. Man kann zu dem Ergebnis kommen, das ist Privatsache. Ich glaube aber nicht, dass Unternehmer und Wirtschaft genug für die Weiterbildung tun, sondern dass zuviel auf den Einzelnen zurückfällt.

Damit hätte die SPD vielleicht ein Beispiel für neue Gerechtigkeit beschlossen. Die Regierung bliebe zuständig für Innovation, zum Beispiel beim Gesundheitswesen, wo über Privatisierungen genauso nachgedacht werden muss wie bei der Rente. Ist dieses Spannungsverhältnis auf Dauer zu ertragen?

Diesem Konflikt kann man nicht davonlaufen. Extreme Lösungen in Reinkultur zur einen oder anderen Seite funktionieren nicht. In einer sich individualisierenden Gesellschaft den Zusammenhalt nicht aufzugeben, bleibt ein wichtiges Ziel. Seit geraumer Zeit diskutieren wir, Gerechtigkeit nicht nur zu verstehen als Verteilungsgerechtigkeit für heute, sondern auch als Vorsorge für die nächsten Generationen. Deshalb ist die Rentenreform auch kein Abrücken vom solidarischen System. Aber dass man jeden Tag streiten muss, wie Gerechtigkeit verwirklicht werden kann, das ist für mich keine Frage. Meine größte Befürchtung in dieser Gesellschaft ist, dass immer mehr Menschen auf der Tribüne sitzen und der Politik nicht einmal mehr zusehen.

Müssen Politiker nicht viel offener auch über Niederlagen und ihre Grenzen reden, um die Menschen für Politik zu interessieren?

Da widerspreche ich Ihnen nicht. Im Prinzip muss Politik ihre Grenzen beschreiben und einen moderierenden statt des alten autoritären Stils finden. Denn sie kann die Dinge nicht alleine lenken: Die Gesellschaft muss sich bewegen. Der Umgang mit Niederlagen ist ein schwieriges Stück Psychologie, bei dem Lebenserfahrung hilft. Kurz nachdem ich meinen Führerschein gemacht hatte, habe ich es geschafft, auf einem völlig leeren Parkplatz das weit und breit einzige Schild, das dort stand, umzufahren. Das war natürlich deprimierend, zumal meine Frau dabei war, die das Ereignis entsprechend kommentiert hat. Da gibt es zwei Möglichkeiten: erzählen oder nicht. Ich habe es Freunden erzählt und hatte zwei Effekte. Erstens haben sich alle gefreut, denn Schadenfreude ist menschlich. Aber dann fangen alle an, ihre Geschichten zu erzählen. Und schon gibt es keinen mehr, der nicht irgendwann rückwärts vor den Baum gefahren ist. Ich kann nur empfehlen, Niederlagen sportlich zu nehmen und sich dazu zu bekennen.

Herr Müntefering[Sie haben 1995 als B], esge

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