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Frauen in Afghanistan: Nicht ohne meine Religion

Zubaida Akbar und ihre Freundinnen lehnen sich gegen vieles in Afghanistan auf. Gegen Taliban, Belästigungen, Dreck und Elend. Ihr Schutz ist der Islam. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht als Nicht-Muslime gelten“, sagen sie. Es wäre ihr Todesurteil.

Der Fahrer stöhnt, er macht sich Sorgen um seinen Wagen. Es ist kurz nach 19 Uhr, es regnet in Kabul, und es ist stockfinster. Nach mehreren Telefonaten findet der Taxifahrer schließlich die schmale Seitenstraße im Südwesten von Afghanistans Hauptstadt. Das Viertel gilt als ein gutes, die Universität ist nicht fern, aber Straßenbeleuchtung ist auch hier nicht zu haben. Die Fahrbahn ist nicht befestigt und von Schlaglöchern durchbohrt, einen Bürgersteig gibt es nicht. Die meisten Menschen, die hier wohnen, besitzen kein Auto, sondern gehen zu Fuß. So wie Zubaida Akbar.

Zubaida Akbar ist 22 und furchtlos, aber diesen Heimweg mag sie nicht. Eines Tages könnten die 400 dunklen Meter bis zu ihrem Haus ihr Schicksal sein, glaubt sie. Und sie meint damit ihr Leben.

Vielen Nachbarn ist die zierliche Frau suspekt. Zubaida setzt sich für ihr Land, für andere Menschen und für ihre eigenen Rechte ein. Das mögen viele Afghanen nicht – und zwar längst nicht nur Taliban. „Die jungen Leute sind konservativer als ihre Eltern“, meint die Kabulerin. Sie aber hat sich entschlossen, für ein offeneres Afghanistan einzutreten.

An diesem Abend trägt sie Jeans, Bluse und Strickjacke, sonst auch mal Rock und Pullover, ihre Augen hat sie dunkel geschminkt. „Wir haben immer gedacht, wir werden auf der Straße als Prostituierte beschimpft und von Männern angegrapscht, weil wir uns so anziehen“, erzählt Zubaida, „aber irgendwann haben wir festgestellt, dass Frauen, die Burka tragen, genauso belästigt werden.“

Mit „wir“ meint sie sich und ihre Freundin Zargis. Die beiden sitzen in Zubaidas Zimmer. An einer Wand hat eine Schrankwand Asyl, an einer anderen hängen ein Spiegel und ein Bügel, auf dem sie ihre Ketten aufbewahrt. Sonst gibt es ein schmales Bett, drei niedrige Holzhocker, auf einem steht ihr Netbook aufgeklappt, an der Steckdosenleiste zieht das Handy neue Kraft. Hinter dem Bett ein Wischmopp und zwölf Flaschen Wasser, eingeschweißt. Zubaida lächelt. „Ich wohne wie eine Nomadin.“ Mittelpunkt dieses Zimmers ist ein roter Teppich – in der ganzen Wohnung sitzt die Familie mit Kissen auf dem Boden, auch zum Essen lassen sie sich auf solchen an einem großen rotgeblümten Wachstuch nieder.

Doch da draußen, auf der anderen Seite der Hausmauern, gelten andere Regeln. „Selbst meine Mutter, die 40 ist und ein Kopftuch trägt, belästigen sie“, sagt Zubaida. Daran, dass Männer keinen Respekt vor Frauen haben, da sind Zubaida und Zargis sicher, ist die Zeit unter den radikal-islamischen Taliban schuld. Die meisten Frauen würden weitergehen und nichts tun, denn belästigt würden sie praktisch täglich. „Ich wehre mich und werde manchmal auch handgreiflich“, sagt Zubaida. Zargis nickt, verzieht aber sorgenvoll das Gesicht, denn das ist gefährlich. Doch Zubaida glaubt an ihre Methode. „Ich drehe mich um und frage, was das soll.“ Da kriegten die Männer meist schon einen Schreck. „Oder ich halte ihnen die Hände fest und gebe ihnen einen Klaps“, sagt sie und grinst, „von einer Frau öffentlich geschlagen. Da ist aller Stolz der Männer sofort dahin.“

Das gelte auch, wenn sie zur Polizei geht, denn sie zeige die Männer an. Auf dem Revier ist es mit dem Erfolg so eine Sache. Vielleicht einer von zehn Polizisten nehme sie ernst, meint Zubaida.

Deshalb sind Zubaida und ihre Freunde noch einen Schritt weiter gegangen. Im Juli haben sie etwas gemacht, was sich bisher noch niemand in Kabul getraut hat: eine Demonstration gegen sexuelle Belästigung angemeldet. Nachmittags sind sie mit Polizeieskorte, die ein befreundeter Polizist organisiert hatte, von der Uni zur UN-Menschenrechtsorganisation marschiert. Sie hatten Plakate und Flyer dabei – viele am Straßenrand haben sie beschimpft. Aber sie haben demonstriert, und die Menschen haben geguckt. „Wenn wir wenigstens einen Menschen ändern, hat es sich gelohnt. Und nach uns werden andere kommen“, sagen sie.

Dass sich die UN-Menschenrechtsorganisation nicht gerührt hat, macht sie bitter. „Eine nutzlose Organisation“, urteilt eine Freundin.

"Dieses Land braucht uns"

Zu Zubaida gehören rund 30 junge Leute, die sich in der Initiative Hadia engagieren. Zubaida hat Hadia mit gegründet, als sie 16 war. Die Organisation kümmert sich um Waisenkinder in Herat, um vergewaltigte Frauen, aber auch um die Stadt.

An einem Freitag sitzen neun der 30 im Afghan Cultural House zusammen. Vor der Tür steht ein bewaffneter Wachmann, die Mauern sind mit Wellblech noch höher gezogen, wie an so vielen Straßen in Kabul dieser Tage. Pommes frites mit Mayo machen die Runde, und im Hof ziehen dann die jungen Frauen und Männer mit ihren weißen Plastikstühlen der Nachmittagssonne hinterher.

Eine junge Frau, Nargis, hat sich absentiert, telefoniert ein paar Meter weiter und kichert. „Die hat einen neuen kleinen Freund“, grinst Jamal breit. Der hochgewachsene junge Mann trägt als einziger die traditionelle weite Hose und den knielangen Kaftan. Als er sich eine Zigarette ansteckt, fotografiert Zubaida ihn. Das Bild wird sie seiner Freundin schicken.

Es ist eine lockere Runde, aber sie haben schon wieder eine Menge vor.

Zubaida leitet die Diskussion. Ihre Ballerinas und die kleine Handtasche liegen im Gras, ihre Freundin hat gerade die Ray-Ban-Sonnenbrille zurückgefordert, jetzt blinzelt sie gegen das tief stehende Licht. Nächste Woche wollen sie wieder eine Müllsammelaktion starten. Dazu rufen sie über Facebook auf, einer aber muss Mülltüten organisieren und Getränke für die Helfer. Dann suchen sie einen Termin und eine Location für ein Konzert mit der gerade populär werdenden Band Face off, mit dem sie Spenden sammeln wollen. Und sie planen einen Filmabend über sexuellen Missbrauch von Jungen. Heute beraten sie auch, ob sie sich als NGO registrieren wollen. Das würde manches einfacher machen, aber es müsste einen festen Ansprechpartner geben. In all den Jahren hatten sie keinen Chef. Und die meisten von denen, die heute hier im Garten sitzen, hoffen, im nächsten Jahr irgendwo im Ausland ein Stipendium zu bekommen.

Also muss Zabih ran. Er arbeitet in einem Büro im Parlament. „Er verpasst die meisten unserer Treffen, aber jetzt wird er in die Pflicht genommen“, sagt Zubaida und lacht. Dann klatscht sie in die Hände, nach anderthalb Stunden gehen alle wieder ihrer Wege.

Auch Zubaida hofft, nächstes Jahr in den USA studieren zu können. Psychologie, englische Literatur oder Kunst. Am liebsten zusammen mit Mohammed, ihrem Verlobten. „Und danach kommen wir wieder und helfen den Menschen“, sagt Mohammed und versucht zu ignorieren, dass sich Zubaida und ihre Schwester gerade über süße Babys unterhalten.

Mohammed Tamim Amini ist 25, hat schon ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen und arbeitet im Moment für das UN-Kinderhilfswerk Unicef in Kabul. Nun wandert sein Blick von seinem iPhone 4 zum Samsung Tablet. Er hat sein Konto geplündert, um sich zu vernetzen. Zubaida und er kennen sich seit rund zwei Jahren, im Juli haben sie sich verlobt. Wenn Mohammed zu Besuch kommt, bleibt die Tür zu Zubaidas Zimmer offen.

„Dieses Land braucht uns“, sagt Zubaida mit Nachdruck, „wir können nicht davonlaufen, wir müssen die Probleme lösen.“ Und sie braucht wohl auch ihr Land, sie nennt es eine Hassliebe. Sie hat schon in der Schweiz gelebt. Aber das sei eben nicht die Heimat. „Egal, wie sie uns hier behandeln“, fügt sie hinzu, „ich kann doch nicht meine ganze Familie und alle meine Freunde mitnehmen!“ Die sind ihr wichtig. Der Vater, die Mutter, die Schwestern – sie stehen hinter Zubaida.

Doch über ihre beiden jüngeren Brüder, 16 und zwölf, macht sie sich Gedanken. Die kennen bisher nur afghanische Sitten. Und auch in ihrer so liberalen Familie gelten die Jungs als Männer. „Wenn mein Bruder sauer ist, geht er einfach aus dem Haus, das dürfte ich nie. Wenn ich ihn hinterher frage, wo er war, ignoriert er mich.“ Was, fragt sie, wenn er 20 ist? Ist er dann zu Hause der Boss? Körperlich wäre sie ihm unterlegen, sagt sie.

Was ihr große Sorgen bereitet, ist, dass die kleinen Brüder sich die erzkonservativen Ideen von Nachbarn und dem Imam der nahen Moschee zu eigen machen könnten. Der verkündet aus Sicht von Zubaida und ihren Freundinnen freitags nur Unsinn über die Frauen, und was der Koran über sie sage, werde falsch wiedergegeben. Auf der Straße und in der Schule zerreißen sie sich den Mund über Zubaida und ihre Schwestern. „Mein Bruder ist weder in der Welt da draußen noch in der hier drinnen zu Hause.“ Sie würde nicht einmal ausschließen, dass sogar er eines Tages auf die Idee kommen könnte, sie umzubringen.

Noch ist ihre Religion, der Islam, ihr Schutz. Alles nimmt dort seinen Ausgang. Darauf achten die jungen Frauen auch peinlichst. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht als Nicht-Muslime gelten. Dann werden sie uns töten.“

"Hier musst du alles mit einem muslimischen Aspekt verbinden."

Es sind zwei kurze Sätze, sie verdrehen die Augen, verstellen die Stimmen, als sie witzeln „Oh, sie sind keine Muslime!“ Aber ihre Angst ist sehr real. Sollten sie so gebrandmarkt werden, „schert sich keiner, wenn uns einer vergewaltigt oder umbringt und irgendwo abwirft. Dann werden sie sagen: Sie waren keine Muslime.“

Zubaida hofft, dass sie auch für die Brüder ein Stipendium findet, damit die sehen, dass es anderswo ganz normal ist, anders zu leben.

Die Ausländer verstehen nach Ansicht von Zubaida und ihrer Freundin diesen engen Zusammenhang von gesellschaftlichem Leben und Religion in Afghanistan nicht. Das sei ein wesentlicher Grund, warum es nicht vorangeht. Sie nennen ein Beispiel. In Afghanistan sterben im weltweiten Vergleich immer noch sehr viele Kinder, bevor sie zwei Jahre alt werden. „Ihr veranstaltet Kurse und stellt viele wichtige Studien vor“, sagen sie, „aber wenn du sagst, Prophet Mohammed möchte, dass du deinem Kind zwei Jahre die Brust gibst, wird die Mutter es tun.“ Ihre Lehre: „Hier musst du alles mit einen muslimischen Aspekt verbinden.“ Dabei wüssten die meisten Afghanen gar nicht, „was sie da mit Gott reden“, wenn sie beten, denn der Koran sei auf Arabisch. Den könnten auch ihre Mutter und ihre Tante nicht lesen, Zubaida hat die beiden gefragt.

Zubaida strotzt vor Energie und würde gern so viel verändern. Dabei ärgert sie sich auch über die Ausländer, die seit 2001 so unermesslich viel Geld ausgegeben, aber so wenig erreicht hätten, die sich zu Konferenzen wie zuletzt auf dem Bonner Petersberg treffen, ohne dem Land eine Perspektive zu geben. „Ihr habt uns wie ein Labor benutzt“, redet sie sich mit der Freundin in Fahrt, während sie auf ihrem roten Teppich hocken. „Ihr habt alles ausprobiert, aber alles ist gescheitert.“ Sie zählt Luftangriffe, gezielte Bombenangriffe, das Durchkämmen von Haus zu Haus und mehr auf, bis sie bei Gesprächen mit den Taliban landet, die lange Jahre ein Schreckensregime führten. „Lasst es uns doch endlich selbst probieren. Dann ist es wenigstens von Afghanen für Afghanen.“

Die Taliban, das steht für sie fest, könnten zwar wieder in die Gesellschaft integriert werden, aber sie dürften nicht wieder Entscheidungsträger werden – eine Beteiligung an der Regierung in Kabul dürfe es nicht geben. „Die Taliban müssen erst mal etwas zurückzahlen.“ Sie glaubt, dass die afghanischen Taliban nicht unbedingt wirklich an die Ideologie glaubten, diese Männer wollten vor allem ihre Familien ernähren. „Die lokalen Taliban kann man kontrollieren“, sagt sie selbstbewusst. Wenn die Jobs hätten, wären sie zufrieden. Schwieriger sei es mit den Kämpfern aus dem Ausland. Was sie tun würde, wenn die Taliban trotzdem wieder an die Macht kämen? „Dafür habe ich keinen Plan“, sagt sie. Es sind ihre Worte zum Abschied.

Auf dem Weg zurück in die Stadt ist die Hauptstraße mit einem Mal gleißend hell erleuchtet. Ein mit Scheinwerfern ausgerüstetes gepanzertes Fahrzeug der US-Armee sucht die Straße nach Sprengfallen ab. Es ist die Straße, an der Zubaida jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit vorbeimuss.

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