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Politik: Frei von Illusionen

Von Tissy Bruns

Kein Ende ohne Unordnung und Auflösung, obwohl doch ein aufrechter Untergang angekündigt worden ist. Der Bundeskanzler sucht die richtige Vertrauensfrage; die rotgrüne Koalition spielt schwarzer Peter beim Steuerkonflikt. Aufgeregtheiten, beschwichtigt der grüne Außenminister. Recht hat er. Aber es sind eben Aufgeregtheiten in einer Situation, in der mit der Macht auch die Kontrolle über das Verfahren verloren gehen kann. Im Moment scheint es nur für SPD und Grüne noch wichtig, ob sich die Koalitionäre völlig zerstreiten. Die Bürger rechnen mit dem Wechsel. Und nicht nur sie. Auch alle politischen Kräfte gehen davon aus, dass im Herbst eine schwarz-gelbe Koalition in Deutschland regiert.

Trotzdem mag man kaum Wechselstimmung nennen, was am Ende der Woche nach dem großen Einschlag des letzten Sonntags im Lande herrscht. Denn der Begriff ist landläufig mit dem Aufkommen von Hoffnungen verbunden, mit Erwartungen auf Aufbruch, besser noch auf neue Wege, Konzepte, Lösungen. Doch der politische Wechsel ist „eingepreist“ wie die Eigenheimzulage bei den Baukosten. Er verbindet sich, negativ gesagt, nicht mit vielen Hoffnungen. Das lässt sich aber, positiv gesehen, auch so interpretieren: Dieser politische Machtwechsel ist einer, dem die Mehrheit der Bevölkerung frei von Illusionen entgegensieht.

Die Erwartungen, dass die Neuen es wirklich besser machen werden, sind viel geringer als die Zustimmung, die der CDU bei den letzten Landtagswahlen entgegengebracht worden ist. Das waren vor allem Strafzettel für die SPD, in Nordrhein-Westfalen erstmals auch für die Grünen. Überwältigend stark ist aber das Gefühl, dass es jetzt einfach andere versuchen müssen. Nicht die Alternative, der Gegenentwurf wird gesucht – nur die Wahlkämpfer werden sich wieder einbilden, dass in Gestalt von Union und SPD das große Ringen um Freiheit und Gerechtigkeit ausgetragen wird. Es muss von anderen zum Ziel geführt werden, was Gerhard Schröder mit seiner Agenda im fünften Regierungsjahr begonnen hat: die Einstellung auf eine globalisierte Wirtschaft und die demografische Revolution. Schröders Verdienst wird bleiben, dass Deutschland die Augen davor nicht mehr verschließt, obwohl dieser Prozess schwierig und für viele Menschen mit Verzicht und Einschränkungen verbunden ist. Nur eine Minderheit, die Gregor Gysi und Oskar Lafontaine sammeln wollen, glaubt noch, dass die soziale Umstellung vor allem auf Kosten der Reichen oder der Wirtschaft erreicht werden kann. Gesucht werden frische, unverbrauchte Leute an der Spitze. Denn die rot-grünen Akteure haben sich in einem Stellungskrieg mit ihrer eigenen Wählerschaft und den Machtverhältnissen im Bundesrat verbraucht, sie sind abgekämpft und restlos erschöpft.

Man spürt in dieser Woche, wie sich das politische Interesse belebt, einfach, weil in der Politik etwas ganz Überraschendes geschehen ist. Ein Bundeskanzler hat es vorgezogen, in einen aussichtslosen Kampf zu ziehen, statt sich an die Macht zu klammern. Die Union wird mit einer Frau aus Ostdeutschland an der Spitze antreten, und alle erwarten, dass diese Frau ins Kanzleramt einzieht. Sie sieht ganz anders aus seit vergangenem Sonntag, frisch und nach vorne gewandt.

Das ist der Fingerzeig, der Erwartungen weckt: Es sind doch lebendige Menschen, die da oben in der Politik. Man kann es noch einmal versuchen mit dem Reformieren. Es muss ja sein.

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