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Freies Internet: Streit um angebliche Zensur in der Türkei

Wenn man Regierungsgegnern in Ankara glauben kann, dann drohen den 40 Millionen türkischen Internetnutzern mit einer am 22. August in Kraft tretenden Reform chinesische Verhältnisse mit unüberwindlichen elektronischen Hürden für die Meinungsfreiheit.

Auf Facebook wird zu Demonstrationen unter dem Motto „Hände weg von meinem Internet“ aufgerufen. Eine Website bebilderte ihren Bericht über den angeblich schwarzen Internet-Tag am 22. August mit einem Grabstein, gerichtliche Beschwerden gegen die Reform laufen. Ist die Türkei, ein EU-Bewerberland und aufstrebendes Mitglied der G-20, auf dem Weg in die digitale Diktatur? Nein. Aber die Behörden sind mit daran Schuld, dass manche dies glauben.

Pläne der Internetbehörde BTK vom Anfang des Jahres sehen zum 22. August die Einführung von mehreren Filtern vor, mit denen beispielsweise Kinder vor Pornos oder Gewaltvideos geschützt werden können. Regierungsgegner befürchten, dass sich alle Nutzer einem Filter unterwerfen müssen. Doch das ist BTK-Chef Tayfun Acarer zufolge falsch.

Die Filter würden nur auf Wunsch eines Nutzers aktiviert, sonst bleibe alles beim Alten, sagte der BTK-Chef. „Wer will, macht weiter wie bisher, wer will, wechselt zu einem sichereren Profil“. Wenn nun plötzlich alle Nutzer auf den besonders restriktiven Filter „Kinder“ umgestellt würden, dann wäre die Kritik sicher berechtigt, fügte er hinzu. Das sei aber keineswegs der Fall. Neben dem Profil „Kinder“ soll es noch die Muster „Familie“, „Inland“ und „Standard“ geben. Bei „Standard“ bleibt alles, wie es ist.

BTK-Chef Acarer sagte, die Vorwürfe seien offenbar politisch motiviert – in der Türkei tobt der Wahlkampf vor Parlamentswahlen am 12. Juni. Die Oppositionspartei CHP, die Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ablösen will, erkannte in dem Streit jedenfalls eine Chance, Wähler zu gewinnen, und trug gleich ganz dick auf: Die geplante Reform vom 22. August sei das „Todesurteil für das Internet in der Türkei“.

Es ist kein Wunder, das Pläne zur Umgestaltung der Internet-Nutzung in der Türkei fast reflexhaft Proteste auslöst. Die Türken haben schlechte Erfahrungen gemacht mit der Haltung der Behörden ihres Landes zur Freiheit im Netz. Auf Druck von Nationalisten sperrten die Gerichte jahrelang das Videoportal Youtube, weil Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk in einem Clip verhöhnt wurde. Ein islamistischer Autor und Gegner der Evolutionstheorie setzte gerichtlich die Sperrung der Website des britischen Wissenschaftlers und Atheisten Richard Dawkins in der Türkei durch.

Möglich wurden diese Exzesse durch das türkische Internetgesetz, das der Justiz viel Macht zur sofortigen Sperrung von Websites gibt, doch den Betroffenen nur wenige Möglichkeiten lässt, sich dagegen zu wehren. Noch schlimmer als das Gesetz selbst ist die stramm-nationalistische Haltung vieler Richter und Staatsanwälte in der Türkei, für die der Schutz des Staates vor angeblichen Verleumdungen viel wichtiger ist als der Schutz demokratischer Errungenschaften wie der Meinungsfreiheit.

BTK-Chef Acarer beteuerte, die neuen Filter seien in Gesprächen mit den türkischen Service-Providern erarbeitet worden. Doch das Misstrauen bleibt. Erst vor einigen Tagen machten Meldungen die Runde, Ankara wolle die Wörterbuch-Website „eksisözlük.com“ verbieten. BTK-Chef Acarer dementierte auch das.

Allerdings trägt seine Behörde ein gerütteltes Maß an Mitverantwortung für den Dauerstreit um Internetzensur. Kürzlich tauchte eine Liste von Wörtern auf, die laut Medienberichten verboten werden sollen. Darunter war das türkische Wort für ‚nackt’, das englische ‚gay’ (homosexuell), das türkische Wort für ‚verboten’ und bizarrerweise die Zahl 31. Die Behörden sprachen von einem Missverständnis.

Hinter dem Streit steht die Furcht mancher Türken, die islamisch geprägte Regierung Erdogan wolle aus einer Mischung aus beschränktem Horizont, religiös motivierter Restriktion und Boshaftigkeit heraus das Internet an die Kandare nehmen. Ankara wehrt sich gegen diesen Eindruck und verweist darauf, dass die Türkei nach Jahren der Reformpolitik unter Erdogan heute freier sei als je zuvor, auch im Internet. Doch nicht alle finden das überzeugend. Auf der Unterschriften-Website „imza.la“ unterstützten schon mehr als 20.000 Nutzer die Aktion „Nein zum Internet-Putsch vom 22. August“.

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