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Friedensnobelpreis an die Europäische Union: Ach, Europa! Versuch einer Hymne

Traum von einer besseren Welt. Traum von Wunden, die heilen können. Traum von der Überwindung des Nationalen. Seit den Römischen Verträgen von 1957 sind solche Träume immer wahrer geworden. Deshalb ist die Europäische Union nicht nur ein Staatenbund, sondern ein Zuhause.

Europa, das Wort, wie eine Verheißung. Voll tönendes „Eu“, rollend das „r“, und das mit dem Opa, das vergessen wir für heute, denn heute wird gefeiert: der Friedensnobelpreis!

Was hat sich nicht alles geändert. Wie haben wir uns geändert. Heute gehen Menschen als Abgeordnete nach Europa, die noch etwas verändern wollen, Junge, die politische Großtaten anstreben und dafür das richtige Forum. Es waren auch früher schon solche dabei, die ihre Berufung in Europa sahen, ehe sie die Bundespolitik rief, aber seltener als jetzt. Die Bundespolitik, die übrigens eine Niederung für manche wird, nur ein kurzer Aufschwung, weil doch die eigentlichen Entscheidungen, die über die Nation hinaus, in europäischen Gefilden getroffen werden.

Aber zurück zur Verheißung, dem Wort, das so klingt – wenn man es nur recht versteht – wie das Sinnbild, die schöne Frau auf dem Rücken des Stiers. Ein griechisches Bild, das daran erinnert, was Europa seinen Sinn gab. Und gibt: Erst waren es die alten Griechen mit ihrer Vorstellung vom Zusammenleben, einer Form von Moderne im Denken, die irgendwie nie zu vergehen scheint; heute sind es die jüngeren Griechen, die mit ihrem Tun und Sein eine derartige Herausforderung geworden sind, dass Europa an ihnen seine Vorstellung vom Zusammenleben in Zukunft modernisieren muss. Das kann man auch, wenn man will wohlgemerkt, als Glücksfall ansehen: als die erzwungende Selbstbesinnung.

Der Staatenbund, wie er als Völkerrechtssubjekt heißt, um seine Form besser fassen zu können – also der Staatenbund als neue Polis, so kann man sagen. Eine Polis mit 4 324 782 Millionen Quadratkilometern Land, 502,5 Millionen Einwohnern, einer Bevölkerungsgsdichte von 116 Einwohnern pro Quadratkilomter. Die in Frieden leben! Grenzenlos. Mit dem Europäischen Rat, dem Rat der Europäischen Union, dem Europäischen Parlament, der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank, dem Gerichtshof der Europäischen Union und dem Europäischen Rechnungshof, verteilt auf Brüssel, Straßburg und Luxemburg, mit Institutionen, die allesamt nur wirken, als wäre hier etwas aus den Fugen geraten, als gäbe es zu viele davon.

Aber nein, das ist nicht der Fall. Jede und jedes lässt sich erklären, selbst der Unterschied zwischen Europäischem Rat mit seinen „Gipfeltreffen“ der Staats- und Regierungschefs und dem Rat der Europäischen Union, auch Ministerrat genannt, der sich – je nach Politikfeld – aus den jeweiligen Fachministern der nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten zusammensetzt. So schwierig ist das alles nicht für den, der den Sinn verstehen will. Und Brüssel ist der Mittelpunkt, so wie es in der Polis die Agora war, der zentrale Versammlungsplatz einer Stadt, die zugleich die wichtige gesellschaftliche Institution wurde, ein Ort für das Herausbilden einer gemeinsamen Identität, über Feste, die gefeiert wurden, und über Volksversammlungen. So, wie es damals zum geordneten Zusammensein in einer Gemeinschaft kam – so funktioniert das auch heute. Im Grundsatz. Dennoch ist eine Selbstbesinnung dringend notwendig. Dafür kommt der Preis zur rechten Zeit

Immer größer sind die Erwartungen geworden - und damit die Enttäuschungen

Selbst wer will, dass der Staatenbund nicht als Fessel, sondern als loses Band begriffen wird, muss doch zugeben, dass es – über die Jahrzehnte gesehen – fester hält, als es den Anschein haben mag. Über die Verträge hinaus, die in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Rom geschlossen wurden, über die sechs Staaten hinaus, die den Anfang bildeten. Denn immer mehr Staaten sind es geworden, 27 an der Zahl, und immer mehr Verträge, die Strecke reicht von Rom über Maastricht bis Lissabon, die das Friedensgeflecht bilden. Sicher, immer größer sind dabei die Erwartungen geworden, die Hoffnungen und damit, zwangsläufig, die Enttäuschungen. Aber das ist eine Frage der Logik; Logik, auch so etwas, das die Griechen beeinflusst haben. Doch bleibt über allem dieses eine, Besondere, mehr als ein Mythos: Frieden unter den Völkern, den Menschen.

Als Alcide De Gasperi, der Tiroler, der Italien europäisch formte, und als Jean Monnet, der Franzose, der mit Rüstungskooperationen in beiden Weltkriegen begann und dann den Zusammenschluss der westeuropäischen Schwerindustrie bewerkstelligte – als diese Gründerväter des ersten modernen Europas nach den Kriegen begannen, neue Ideen zu verwirklichen, war das noch ein Traum. Ein Traum von einer besseren Welt.

Von Europa, der Schönen, die nicht unter die Hufe des wild gewordenen Stiers gerät. Von einem Europa, dessen Wunden aus unzähligen Gefechten mit Millionen von Toten heilen und vernarben. Narben allerdings, die von Zeit zu Zeit schmerzen, vor allem dann, wenn zu runden Jahrestagen die Reden daran erinnern, was war. Erinnerungen an Verdun, an die Ardennen, den Hürtgenwald, Namen, verbunden mit Schlachten, die das große Abschlachten wurden.

Heute, da sie nur noch fernere Erinnerungen sind und Orte, an die man geht, um dort unter wucherndem Gras Geschichte zu suchen, wird deutlich, dass die sich nicht nur auf Grabestafeln eingetragen hat, sondern auch in Herzen eingeschrieben ist. In die Herzen von Politikern, die so wirken, dass es sich einprägt ins kollektive Gedächtnis ihrer Nationen. Vornehmlich sind es die Herzen derer, die diese Geschichte noch erlebt haben, und derer, die sie auf sich haben wirken lassen.

Unvergessen ist, wie Helmut Kohl und François Mitterrand einander an der Hand fassten über Gräbern in Verdun, um damit zu dokumentieren, dass jeder Graben überwunden werden kann, alles Trennende, ob der Rhein oder der Schützengraben. Zu Geschichte gehört auch, wie Jacques Chirac, der Konservative, und Gerhard Schröder, der Sozialdemokrat, gemeinsam den Einsatz im Irakkrieg ablehnten. Und wie die Ostdeutsche Angela Merkel zur bestimmenden Frau in Nicolas Sarkozys Leben wurde. Deutschland und Frankreich Seite an Seite, vereint, in Umarmungen mit „grosse bises“, Küsschen hier und Küsschen da – gäbe es charmantere Symbole für das, was wir heute feiern?

Das Menschenrecht auf Frieden wird Wirklichkeit

Ach, Europa. Wenn es dich nicht gäbe, du müsstest erfunden werden. Vormals kommunistische Staaten wurden eingegliedert. Sieger gaben Milliarden für die Besiegten. Überall eine Umkehr aller historischen Siegerlogik. Das hätte den alten Griechen einfallen können. Und wurde Wirklichkeit mitten in Europa.

Nicht zuletzt für uns Deutsche, die wir doch von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt herrschen wollten … Vorbei, nicht vergessen, nie ganz vergeben, aber so weit verziehen, dass Europa inzwischen unter maßgeblicher deutscher Mitwirkung weiter reicht denn je. So weit, dass Deutsche in Europa angekommen sind, zu Hause sind. Dass Deutschlands Reformen der SPD der Rechten in Frankreich als Vorbild galten. Dass Helmut Kohl zu seiner Zeit zum zweiten Ehrenbürger Europas geworden ist, dem zweiten von bisher nur zweien. Der erste war Jean Monnet.

Immer Patriot, nie Nationalist – das war der Begriff, den Johannes Rau prägte, als er Bundespräsident wurde. Rau, der die Enkelin Gustav Heinemanns geheiratet hatte, der seinerseits als Bundespräsident in Haltung und Gesinnung eine solche Zivilität ausstrahlte, dass sie auf alle seine Nachfolger wirkte. Das Antinationale wurde Programm, der Bürgerpräsident das Ideal, die Bürgergesellschaft Staatsphilosophie. Und mit ihr das Gundverständnis, das der Österreicher Robert Menasse unlängst so wunderbar dargelegt hat: Dass es in grundsätzlichen Menschheitsfragen keine vernünftigen nationalen Interessen mehr geben kann, so wie es etwa auch bei den Menschenrechten keine nationalen Besonderheiten oder Sonderrechte geben kann.

Das Menschenrecht auf Frieden wird Wirklichkeit, wo die Bürgergesellschaft gelebt oder, in der Sprache der Nachbarn gesagt, der Citoyen zum Leben erweckt wird. Wir wollen gute Nachbarn sein – dieses Konzept, das Willy Brandt vordachte, das Heinemann mit seinem ersten Besuch als Bundespräsident in den Niederlanden vormachte, ist mehr als eine politische europäische Phantasmagorie, ein Trugbild.

Es ist eben nicht künstlich, nicht nur das Verfassen von fantastischen Sprachbildern, oder Mimikry auf der Bühne, die das politische Brüssel bietet – es ist Wirklichkeit. Die beste Antwort auf die „Nötigung zur kooperativen Bewältigung der globalen Herausforderungen“, von der Jürgen Habermas schrieb? Wenn sich Europa auch einer Angela Merkel ins Innerste einschreibt. Wenn sie in der Krise, die das ganze schöne Europa trifft, nach Athen reist, um dort über das zu reden, was ihr Herz anrührt. Ihr Herz! Dann ist es die Nachbarin Merkel, die eine nationale Welle bricht, die wiederum Europa zu überrollen drohte. Und eines Freundes Freund zu sein, das ist der große Wurf, sagt die Europahymne.

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