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Politik: Für die westliche Linke war der Vietcong erst Identifikationsmuster und dann Chiffre für das Falsche

Vietnam wurde in den 60er Jahren zum Symbol für eine neue Weltsicht: Jenseits der Blöcke schienen sich in der Dritten Welt nationale, antiimperialistische Bewegungen zu bilden. Für die Intellektuellen in den unruhigen Metropolen, in Berlin, Paris und Los Angeles, war dieser Krieg ein Identifikationsmuster.

Vietnam wurde in den 60er Jahren zum Symbol für eine neue Weltsicht: Jenseits der Blöcke schienen sich in der Dritten Welt nationale, antiimperialistische Bewegungen zu bilden. Für die Intellektuellen in den unruhigen Metropolen, in Berlin, Paris und Los Angeles, war dieser Krieg ein Identifikationsmuster. David gegen Goliath, Arm gegen Reich, Bauernarmee gegen Bomber. Vietnam wurde in den späten 60ern zur Projektionsfläche für linke Intellektuelle. Dort kämpfte das Volk, das in den Metropolen meist vor dem Fernseher saß. Susan Sontag hat in ihrem Essay "Reise nach Hanoi" 1968 diesen Effekt beschrieben: In Hanoi erfährt sie eine Art Realitätsschock und schreibt nicht ohne Selbstironie: "Am Anfang erging es mir dort etwa so, wie wenn man einen Filmstar kennenlernt, von dem man jahrelang geträumt hat und den man nun, da er vor einem steht, viel kleiner, unscheinbarer, erotisch weniger anziehend findet."

Doch dieses Reflexionsniveau ging in den "Solidarität mit ..."-Parolen unter. Man skandierte "Ho-Ho-Ho-Chi Minh", die Bewegung brauchte Helden. 1968 wurde der Protest popfähig und populär. Damit ging auch ein Verlust an kritischem Vermögen einher. Was man zuvor, etwa Mitte der Sechziger noch gewusst hatte, wurde vergessen, verdrängt: Parteilichkeit statt Kritik. 1965 etwa war in Frankreich ein Film entstanden: "Fern von Vietnam". Im Zentrum des Episodenfilms steht ein Monodrama: Claude Ridder, Pariser Schriftsteller. "Dies ist der erste Krieg in der Geschichte, den jedermann zur gleichen Zeit sehen kann," sagt er. Und: "Aber er passiert in einem Möbelstück." In Ridders Monolog sind die Probleme verdichtet, die das Verhältnis der westlichen Intellektuellen zu Vietnam prägten: der Wunsch, Partei zu ergreifen, das Zögern, quälende Erörertung eigener Identität. Es ist ein Nachdenken über das Neue, Mediale. Weil der Blick auf den Krieg mediatisiert ist, ist der Blick auch korrupt. Ridder sagt: "Die Sudanesen, 50 000 Tote im Jahr. Wen stört das? Das ist wie mit Börsenkursen: Vietnam ist am höchsten notiert, der Sudan am niedrigsten, Kurdistan ein wenig matt." Bilder schieben sich vor die Wirklichkeit.

Doch solche Selbstreflexionen gingen in der Radikalisierung von 1968 verloren. Die Parole "Weder Washington noch Hanoi", 1966 noch zu hören, wurde vom "Sieg im Volkskrieg" abgelöst. Das (selbst)-kritische Engagement zerfiel in zwei Teile: einen abstrakten Neomarxismus, und einen identitätspolitischen Kurzschluss. Die 68er Bewegung produzierte eine Unmenge von Theorien und Ableitungen - doch mental neigte man zu schlichten Mustern: revolutionär - reaktionär, gut - böse. Die Vietnam-Schwärmerei war eher exotistisch als politisch: mit dem Vietcong in der Rolle des edlen Wilden.

Der unvermeidliche Kater folgte Ende der 70er Jahre. Vietnam führte nach 1975 weitere Kriege, marschierte in Kambodscha ein und bekriegte China. Im realsozialistischen Vietnam gab es politische Gefangene, Zensur, Nomenklatura. So wurde Vietnam ein zweites Mal ein Zeichen für viele Linke: Chiffre für das Falsche, das man zuvor getan hatte. Die Fahnen wurden eingerollt. Mag sein, dass die Abkehr von weltrevolutionären Luftschlössern die Voraussetzung für die 68er-Linke war, sich mit den Vorzüge des heimischen Parlamentarismus anfreunden. Doch dies war auch eine Verwechselung: Anstatt die eigenen Projektionen zu verabschieden, entsorgte man gleich die ganze Idee des Internationalismus. "Ich habe keine Sympathien für die Sandinisten", bekannte Cohn-Bendit 1979. Auch in der Korrektur des Falschen kann man viel falsch machen.

Stefan Reinecke

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