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Fukushima: Ist die Gefahr 100 Tage nach dem GAU gebannt?

Es ist das zweite Tschernobyl, die Wiederholung eines Albtraums. Am 11. März gerät das japanische Atomkraftwerk Fukushima Daiichi außer Kontrolle.

Ein gewaltiges Erdbeben hatte die Pazifikküste erschüttert, der folgende Tsunami verwüstete weite Landstriche. Mittendrin das Kraftwerk. Die Blöcke 1 bis 3 werden automatisch abgeschaltet. Durch die Naturgewalten bricht das Stromnetz zusammen, der Tsunami hat die Notstromversorgung zerstört. Daraufhin fällt die Kühlung aus, in allen drei Blöcken kommt es zur Kernschmelze. Bei Wasserstoffexplosionen werden die Reaktorgebäude stark beschädigt und es tritt radioaktives Material aus. An Block 4 bricht mehrfach Feuer aus. Das Brennelementlagerbecken daneben hat viel zu wenig Kühlwasser, die Hüllrohre versagen und die aufsteigende Hitze reißt weitere Radionuklide in die Höhe. Zudem dringt in den folgenden Wochen radioaktives Wasser, das zur Kühlung in die Anlage gepumpt wurde, teils absichtlich, teils versehentlich in den Untergrund sowie in den Pazifik.

Vor allem radioaktive Iod- und Cäsiumisotope wurden freigesetzt, untergeordnet auch Strontium. Insgesamt entwich bis heute etwa ein Zehntel der Radioaktivität, die vor 25 Jahren in Tschernobyl freigesetzt wurde.

Wie ist die aktuelle Lage im Kraftwerk?

Der Zustand des Kraftwerks bleibt kritisch. In den Reaktoren 1 bis 3 sowie den Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente entsteht weiterhin Nachzerfallswärme, die abgeführt werden muss. Andernfalls kann das Desaster von vorn beginnen: Brände, Explosionsgefahr durch Wasserstoffbildung, massenhafte Freisetzung radioaktiver Partikel in die Luft. „Die Gefahr ist erst dann gebannt, wenn an jedem einzelnen Reaktor und jedem Brennelementlagerbecken ein separater und geschlossener Kühlkreislauf angeschlossen ist“, sagt Joachim Knebel, Experte für Kerntechnik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Das will die Betreiberfirma Tepco (Tokyo Electric Power Company) bis Mitte Juli schaffen.

Ein ambitionierter Plan, denn noch gibt es große Probleme. So wird weiterhin zur Kühlung ständig frisches Süßwasser in die Reaktordruckbehälter gepumpt. Der Schwerkraft folgend strömt das radioaktiv kontaminierte Wasser in die ringförmige Kondensationskammer, die sich unter dem Reaktorkern befindet. In Block 2 ist diese Kammer beschädigt, so dass stark kontaminiertes Kühlwasser in die tiefer gelegenen Räume fließt. Von dort wird es in Lagertanks gepumpt, um später gereinigt zu werden. Dafür soll das Wasser durch Zeolithe geleitet werden: spezielle Tonminerale, an denen die radioaktiven Bestandteile gebunden werden. Erste Versuche waren erfolgreich, teilt Tepco mit. Heute soll die erste Dekontaminationsanlage in Betrieb gehen.

Die Zeit drängt, denn es fällt immer mehr strahlende Flüssigkeit an. Über 100 000 Tonnen sollen es bereits sein, schrieb das Fachjournal „Nature“ vor einer Woche. Ohne Reinigungsmöglichkeit werden die Tanks um den 20. Juni herum voll sein, dann bleibt nur noch die Notleerung in Richtung Pazifik. Gelingt die Installation, kann zur Kühlung statt frischen Wassers die aufbereitete Flüssigkeit genutzt werden. Ein erster Schritt zu einem Kreislauf.

Damit nicht genug. „Der Reaktordruckbehälter im Block 1 ist vermutlich im unteren Teil beschädigt, dort strömt hochgradig kontaminiertes Wasser in tiefer liegende Bereiche der Gebäude“, sagt Knebel. Die Reaktorgebäude sind durch Gänge im Keller miteinander verbunden, nun droht das strahlende Wasser in die übrigen Blöcke zu strömen. „Um das zu verhindern, werden die Verbindungsgänge zugemauert.“ Zudem wisse keiner, ob das Beben nicht auch die Bodenplatte der Reaktoren beschädigt hat, so dass stark kontaminiertes Wasser in den Untergrund strömt und das Grundwasser verunreinigt. Ebenfalls kritisch ist die Situation an den Lagerbecken für die Brennelemente. Auch dort gibt es noch keinen geschlossenen Kühlkreislauf und die Experten wissen nicht, ob die Konstruktion durch das Beben beschädigt wurde. Deshalb würden die Behälter derzeit mit Betonstützen von unten stabilisiert, berichtet Knebel.

Sind die geschmolzenen Kerne noch gefährlich?

Kleiner Lichtblick: Die Gefahr, dass sich in einem der Reaktoren die kochend heiße Kernschmelze durch die Barrieren frisst, ist nach Knebels Einschätzung sehr gering. „Die Nachzerfallswärme nimmt mit der Zeit ab und beträgt jetzt nur noch 0,3 Prozent der im Leistungsbetrieb erzeugten Wärme. Für Block 1 sind das aber noch stattliche vier Megawatt, die sicher weggekühlt werden müssen“, gibt er zu bedenken. Zwar wisse keiner genau, wie umfangreich die Kernschmelze in den Blöcken ausfiel. „Ich gehe aber davon aus, dass aufgrund der Überdeckung mit Wasser und guter Kühlung alle Schmelze inzwischen erstarrt ist.“

Wie geht es in den nächsten Monaten weiter?

Sollten die Kühlsysteme endlich funktionieren, müssen sie nach Expertenschätzung noch einige Monate, wenn nicht sogar Jahre laufen, bis die Reaktoren als sicher gelten können. Weiterhin müssen alle Anlagenteile auf Lecks oder Schwachstellen untersucht und gegebenenfalls repariert werden. Das betrifft beispielsweise das Innere der Reaktoren, das durch das eingeleitetete Salzwasser korrodiert ist, sowie die beschädigten Kühlwasserleitungen, Ventile und Pumpen, durch die radioaktives Wasser in die Umwelt gelangen kann.

Mittelfristig soll Fukushima-Daiichi vor erneuten Naturgewalten geschützt werden und beispielsweise die Notstromdiesel für die neuen Kühlsysteme gebunkert und in höheres Gelände verlegt werden, damit sie von einem Tsunami nicht wieder außer Kraft gesetzt werden.

Außerdem soll eine zusätzliche Hülle aus Stahlbeton um die beschädigten Blöcke gebaut werden. Damit hoffen die Betreiber weitere Kontaminationen der Atmosphäre zu vermeiden und die Reaktorruinen, vor allem aber die Brennelementlagerbecken, vor äußeren Einwirkungen zu schützen. Dort liegen die Brennelemente praktisch an der freien Luft.

Durch die Hülle wird zudem der Rückbau der gesamten Anlage – denn darauf wird es wohl hinauslaufen – vor Wind und Wetter geschützt. Wie lange das dauern wird, vor allem wie das im Einzelnen gemacht werden soll, kann derzeit keiner sagen. „Ein ,normaler’ Rückbau dauert in Deutschland 10 bis 15 Jahre“, sagt Sascha Gentes vom KIT. „Da man nicht genau weiß, wie groß die Schäden in Fukushima sind, wird es dort sicher deutlich länger dauern.“

Wie gefährdet ist die Umgebung des Kraftwerks Fukushima?

Die Umgebung des Kraftwerks ist in einem Radius von 20 Kilometern evakuiert worden. Ob und wann die Menschen dauerhaft zurückkehren können, ist offen. Vor allem im Nordwesten ist die Strahlenbelastung noch immer groß. „Dort werden vermutlich über Jahrzehnte keine Menschen wohnen können“, sagt Knebel. Für die übrigen Gebiete muss abgewogen werden: Wie hoch ist die Radioaktivität? Um wie viel kann sie durch Dekontamination, was oft nichts anderes als das Entfernen der obersten Bodenschicht ist, gesenkt werden? Ab welchem Strahlenwert dürfen Menschen dort leben? Letzteres wird eine Entscheidung der Behörden sein: ein Abwägen, das der Wahl zwischen Pest und Cholera gleicht.

Je höher der Grenzwert festgelegt wird, umso mehr Menschen werden der Strahlung ausgesetzt sein. Wobei es sich um Dosen handelt, die weit entfernt von den Werten sind, die akute Schäden hervorrufen. Bei der „Niedrigdosis“ geht es um eine mögliche Häufung von Krebserkrankungen im Zeitraum von Jahren. Auf diesem Gebiet der Medizin herrschen noch große Wissenslücken. Denn neben der Radioaktivität, die von Partikeln aus technischen Anlagen kommt, wirken die natürliche Strahlenbelastung und weitere Risikofaktoren wie ungesunde Ernährung oder Rauchen. Diese statistisch voneinander zu trennen ist schwer.

Andererseits: Je niedriger der Grenzwert, umso größer ist das gesperrte Gebiet und umso mehr Menschen sind von Entwurzelung bedroht. Mit all seinen wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Folgen. Auch dieser Punkt, das zeigen zahlreiche Beispiele, ist nicht zu unterschätzen. In der 20-Kilometer-Sperrzone um Fukushima befinden sich immerhin 48 000 Haushalte.

Besteht auch Gefahr für weiter entfernte Gebiete?

Auch in größerer Distanz hat der Atomunfall Spuren hinterlassen. So kam es vorübergehend zu erhöhten Strahlungswerten im Trinkwasser von Tokio, weil entsprechende Partikel in offene Wasserbehälter gelangten, nachdem sie vom Wind aus Fukushima herangeweht wurden. Auf die gleiche Weise wurden offensichtlich Teepflanzen in 370 Kilometer Entfernung kontaminiert. Allerdings muss man hinzufügen, dass die radioaktive Belastung in größerer Entfernung kaum noch ins Gewicht fällt, weil viele Isotope bereits zerfallen sind und kaum neue hinzukommen. Sofern die Techniker die havarierte Anlage einigermaßen im Griff behalten, besteht keine akute Gefahr. Erst recht nicht für weiter entfernte Länder. Einzige Ausnahme sind Handelsgüter wie Pazifikfisch. Die werden allerdings bei der Einfuhr auf Radioaktivität getestet.

Was ist über Umweltschäden bekannt?

In den ersten vier Wochen nach dem Unglück wurden Bäume und Vögel mit 100-fach höheren, marine Lebewesen gar mit einigen tausendmal höheren Strahlendosen konfrontiert als üblicherweise als sicher erachtet werden, berichten französische Forscher im Fachjournal „Environmental Science & Technology“. Mittlerweile ist die Strahlenbelastung jenseits der Anlage Fukushima-Daiichi stark gesunken. Restriktionen für Gemüse- und Fischhandel sind von den Behörden weitgehend aufgehoben worden.

Vorbei ist es damit noch lange nicht. Immer wieder gibt es Meldungen, wonach radioaktive Substanzen in Fischen oder Walen entdeckt werden. Diese sind zwar oft unter dem Grenzwert, der für Nahrungsmittel gilt. Wie viel strahlende Partikel genau in den Ozean gelangt sind, wo sie sich sammeln und was sie in den Organismen selbst in geringer Konzentration hervorrufen, lässt sich derzeit noch nicht sagen.

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