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Politik: Ganz aufgelöst

Von Lorenz Maroldt

Hurra, wir müssen wählen. Nur einen anarchistischen Moment lang mag man sich mit klammheimlicher Lust am Überraschenden auszumalen versuchen, was geschehen wäre, hätten die Richter die Bundestagswahl gekippt. Wie Schröder und Merkel in ganz schlechte Verfassung geraten, wie sie um Worte ringen, weil ihre Reden plötzlich Makulatur sind. Nein, das Land wäre nicht zugrunde gegangen daran, obwohl dies etliche Neuwahleuphorisierte bis hin zum Bundespräsidenten mit düsteren Bildern unterstellten. Aber es ist schon, wie es erst Köhler sagte und jetzt auch der Verfassungsrichter Hassemer: Dem „Wohl des Volkes“ ist so am besten gedient – auch weil die große Mehrheit des Volkes wohl im anderen Fall die Welt nicht mehr verstanden hätte. Wenn alle, fast alle wählen wollen in einer Demokratie, dann sollten sie es auch können dürfen. Die zählbare Klarheit des Urteils – sieben zu eins Stimmen – entspricht dieser Stimmung.

In seinem abweichenden Votum hat der Richter HansJoachim Jentsch eine Veränderung des politischen Systems konstatiert. Da der Kanzler zur Begründung seines Neuwahlwunsches unter anderem den starken Gegenwind im Land erwähnte, aber eigentlich nur die Mehrheit im Bundestag relevant sei, stärke die Entscheidung des Gerichts plebiszitäre Elemente. Die unterlegenen Kläger dagegen, die Abgeordneten Schulz und Hoffmann, sehen die Republik durch das Urteil auf dem Weg zur „Kanzlerdemokratie“. Beides ist übertrieben. Dem Kanzler machten nicht etwa Massendemonstrationen oder gar Streiks zu schaffen, wie sie in anderen Ländern als Reaktion auf Reformpolitik immer wieder vorkommen, sondern vor allem die verlorenen regulären Landtagswahlen. Die daraus nachvollziehbar entstehende Nervosität im eigenen Lager, die sich selbstverständlich auch auf die ihn nominell unterstützenden Fraktionen übertrug, ließen ihn, so sagt er, am steten Vertrauen der Abgeordneten in seine Politik zweifeln. Wer wollte ihm das Gegenteil beweisen? Und vor allem: wie? Der Bundespräsident lehnte das Zweifeln am Zweifel ebenso ab wie das Verfassungsgericht. So bleibt auch offen, ob der Kanzler diesen Ausnahmeweg vor allem deshalb beschritt, um sich einen politischen Vorteil zu verschaffen, was ein Missbrauch wäre. Aber selbst das machte aus Deutschland noch keine Kanzlerdemokratie. Es hat ja der Bundestag entschieden. Die Verfassung sagt: Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik. Die Regierungswirklichkeit sieht ohnehin etwas anders aus.

Trotzdem war dies kein großer Tag für die Demokratie. Das Urteil hat etwas unangenehm Zeitgeistiges. Politik ist auch Inszenierung, ist auch Trickserei. Schröder und Müntefering aber haben die Kampfzone dorthin ausgeweitet, wo man nicht leichtfertig seinem Spieltrieb nachkommen sollte. Das Gericht wiederum flüchtete sich quasi in Nichtzuständigkeit wegen angeblich fehlender Möglichkeiten zur Erforschung der Motive. „Sollen wir in die Beweisaufnahme eintreten?“, hatte Verfassungsrichter Di Fabio spöttisch gefragt. Vielleicht gar keine so schlechte Idee, könnte man sagen. Dem steten Vertrauen in die Verfassung und seine Organe hat das ganze Verfahren jedenfalls nicht gedient.

In politisch guten Zeiten – und in solchen leben wir, allen gegenteiligen Beschwörungen zum Trotz – mag manches im Grundgesetz übertrieben streng erscheinen. In politisch schlechten Zeiten aber kann es helfen, ein Mindestmaß an notwendiger Stabilität zu erhalten. Das kann kein Kanzler aufs Spiel setzen wollen. Soll sich also, um Klarheit zu schaffen, der Bundestag ein Selbstauflösungsrecht geben? Dies würde etlichen Abgeordneten Gewissensnöte ersparen und einem Fraktionsvorsitzenden peinliche semantische Verrenkungen. Aber darum kann es nicht gehen, und eigentlich ist das nach diesem Urteil auch nicht mehr nötig. Wenn diese mutwillig herbeigeführte Abstimmungsniederlage nicht anfechtbar ist, dann ist es kaum eine mehr.

So gilt es also zu ergänzen: Dem Wohl des Volkes ist so am besten gedient – für den Moment.

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